gefahren im Internet Ein Viertel der Kinder und Jugendlichen sind von Cybergrooming betroffen
Auf Tiktok gibt sich Marvin als minderjähriges Mädchen aus – dann verabredet er sich mit mutmaßlichen Pädophilen, um sie der Polizei auszuliefern. Behörden sehen das kritisch.
So beginnt am 24. September eine Unterhaltung auf einer Chat-Plattform, auf der jeder mit wenigen Klicks mitmachen kann:
20:29: Hi ich bin Thomas 50J. aus berlin
20:31: Hallo ich bin Louisa 12 und komme auch aus berlin
20:32: Hallo louisa freut mich. Was verschlägt dich hierher?? Mich die langeweile
20:35: hmm eine klassenkameradi hat gesagt ich soll hier mal chatten
20:36: Warum sollst du das? Suchst du etwa Sex? Weil die meisten hier sex suchen
Das sind fünf Zeilen, die für etwas stehen, was Experten als „Pandemie“ und Sicherheitsbehörden als „erhebliches Dunkelfeld“ bezeichnen. Nach ihren Erfahrungen geschieht jeden Tag tausendfach in ganz Deutschland, was unter „Cybergrooming“ bekannt ist: die gezielte Suche nach sexuellen Kontakten mit Minderjährigen im Internet.
Später wird Thomas (*Name geändert) Louisa Bilder von sich schicken, wie er vollkommen nackt auf dem Sofa sitzt. Er wird sie dazu auffordern, ihren Körper zu „erkunden“, sich zu „streicheln“, und sie fragen, ob sie „etwas neugierig auf Sex geworden sei“. Schließlich verabreden sie sich für den darauffolgenden Sonntag um 17 Uhr.
Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) liegen weite Teile des Chatverlaufs vor. Denn Louisa ist nicht Louisa. Hinter dem Laptop sitzt ein Mann, der sich selbst als „Pedo Hunter“ bezeichnet und im Internet Jagd auf „Pädokriminelle“ macht, wie er sie nennt. Jede Woche verfolgen Marvins Fans in seinem Livestream, wie er unter einem Pseudonym mit Männern chattet, die sich für sein Alter Ego, die vermeintlich Zwölfjährige, interessieren. Sein Ziel: Er will sie treffen, um sie der Polizei auszuliefern.
In Deutschland, das zeigen Gespräche mit Kinderschützern und Sicherheitsexperten, mit Fachleuten, die Menschen mit pädophilen Neigungen therapieren, klafft eine riesige Lücke, wenn es darum geht, die junge Generation vor den Gefahren im Internet zu schützen. In einer aktuellen Umfrage der Landesanstalt für Medien NRW gab ein Viertel der befragten Kinder und Jugendlichen an, schon einmal von „Cybergrooming“ betroffen gewesen zu sein. 16 Prozent von ihnen wurden von Unbekannten zu realen Treffen aufgefordert.
Im Winter ist „Hauptsaison“
Tiktoker wie Marvin machen sich dieses Ohnmachtsgefühl zunutze. Er bewegt sich in einem Spannungsfeld, in dem ihm einige vorwerfen, Selbstjustiz zu üben und ein „Pseudoermittler“ zu sein, und viele andere ihn genau dafür feiern. Seine Arbeit vergleicht er mit Müllrausbringen: „Keiner hat Bock drauf, aber einer muss es machen.“ Die Menschen, die bei ihm anbeißen, nennt er „Monster“.
Wie kann es sein, dass in Deutschland Zivilisten auf eigene Faust Jagd auf vermeintliche Pädophile machen – während Tausende ihnen live dabei zuschauen? Einblicke in eine Welt voller Abgründe, die nur Verlierer kennt.
Mitte September ist es schon etwas frisch auf dem Stuttgarter Schlossplatz, aber noch warm genug, um in ein Eiscafé abzubiegen. Marvin ist fast ganz in Weiß gekommen: Jacke, Hose, Sneaker. Großflächige Tätowierungen zieren Hals und Hände. Für ihn beginne bald die Hauptsaison, wie er sie nennt. „Im Winter knallt’s“, sagt er, denn „da sitzen sie alle eklig zu Hause vor dem PC“.
Sein letzter Fall liegt zwei Wochen zurück: Anfang September stellte er einen 38-Jährigen am Frankfurter Hauptbahnhof vor laufender Kamera: „Du wolltest dich mit einer Zwölfjährigen treffen? Die Zwölfjährige bin ich.“ Er streamte live, wie Zivilbeamte den Mann am Bahnsteig festnahmen.
Im Winter knallt’s. Da sitzen sie alle eklig zu Hause vor dem PC.
Marvin, "Pedo Hunter" auf Tiktok
Während des Chats zuvor habe dieser ihm mehr als 300 Bilder geschickt, „nur von seinem Glied“. Auf Tiktok, wo Marvin sich „404“ nennt, folgen ihm fast 140.000 Menschen, seine Videos haben 1,2 Millionen Likes gesammelt. Schon vor ihm profitierten etwa Youtuber wie Nick Hein, ein ehemaliger Polizeibeamter und heutiger „Pedo Hunter“, von einem Volkszorn, der sich in der Gesellschaft schon beim kleinsten Verdacht von Kindesmissbrauch entfaltet. Mit ihrem martialischen Vorgehen bedienen sie das Bedürfnis, die „Richtigen“ zu bestrafen – und blanken Voyeurismus.
Marvin nennt sein Engagement eine „moralische Sache“. Er selbst habe Missbrauch in seinem Umfeld erlebt, als er mit 13 Jahren in ein Pflegeheim kam, sagt er. Später schloss er sich dem Hackerkollektiv der Anonymous-Gruppe an. 2020 begann er neben seinem IT-Job mit dem Fallenstellen im Internet und führte nach eigenen Angaben bereits rund tausend „Pedo-Chats“. Thomas aus Berlin, mit dem er sich mehrere Tage geschrieben hat, soll sein 32. Fall in diesem Jahr werden.
Behörden sind überfordert
In den fingierten Chats benutzt Marvin User-Namen, „die triggern“, Lena oder Louisa zum Beispiel, und baut bewusst Rechtschreibfehler ein, um Zwölfjährige zu imitieren.
Er bedient sich einer Methode, die auch von der Polizei oder dem BKA angewendet wird. Damit die Behörden sogenannte „Scheinkind-Operationen“ klarer anwenden können, passte der Gesetzgeber 2021 die Versuchsstrafbarkeit im Bereich Cybergrooming an, jedoch ohne „eine Art Eingrenzung beispielsweise nur auf Sicherheitsbehörden einzubauen“, sagt Thomas-Gabriel Rüdiger, Leiter des Instituts für Cyberkriminologie an der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg. Deshalb sei das generelle Vorgehen der „Pedo Hunters“ nicht verboten.
Die Beamten selbst kämen bei einem digitalen Massendelikt wie Cybergrooming aber kaum dazu, proaktiv Scheinkind-Operationen durchzuführen, sagt Rüdiger. Wenn die Sicherheitsbehörden mit einer höheren und dauerhaften Intensität vorgehen würden, „würde es die Täter und Täterinnen sicherlich mehr verunsichern und gar keinen Raum für solche Aktionen lassen“.
Das Problem: Das Internet wird schier geflutet von Cybergrooming-Fällen. Gibt Marvin sich als Minderjährige aus, bekommt er in einer Stunde bis zu 50 Anfragen. Auf der anderen Seite berichten Kinder und Jugendliche, dass sie sich in Chats teilweise mit 70 bis 80 fremden Menschen geschrieben hätten, sagt Tanja von Bodelschwingh vom Verein N.I.N.A., einer Beratungsstelle für Opfer von sexualisierter Gewalt. Insgesamt nehme das Thema deutlich zu. Auch die Zahl der Sexualdelikte zum Nachteil Minderjähriger, die der Polizei bekannt werden, steigt seit Jahren.
Die Ermittler sehen das Vorgehen von Marvin kritisch: Gegenüber dem RND weist das BKA darauf hin, dass die Verfolgung von Straftaten einzig den Strafverfolgungsbehörden obliege, und warnt, bei einem aktiven Vorgehen wie dem der „Pedo Hunters“ bestehe das Risiko, sich selbst strafbar zu machen.
Marvin kennt die rechtlichen Fallstricke genau. Dazu gehört, dass er die Chatpartner nicht zu verbotenen Handlungen anstiftet. Wenn die Männer Bilder sehen wollen, schickt er ihnen KI-generierte Fotos, aber niemals intime Motive. Nimmt er sie bei den Treffen ins Kreuzverhör, filmt er nur ihre Beine. Die örtlichen Beamten informiert er bereits im Vorfeld, manchmal ruft er sie während der Streams hinzu und übergibt die ausgedruckten Chats. Zu den Treffen erscheinen befreundete Kampfsportler, die Fluchtwege sichern und den angelockten Mann später umringen, aber nicht körperlich angehen. „Wir übernehmen die Ermittlungen, die Polizei muss es einfach nur noch weitergeben“, so beschreibt Marvin es.
Gefahr durch „Pedo Hunters“
Die Polizei Berlin sieht das anders: Strafverfolgung sei keine „Jagd“. Außerdem sei Pädophilie selbst nicht strafbar, nur entsprechendes Handeln. Zudem könnten laufende Ermittlungen zerstört werden, wenn zum Zeitpunkt des „Zugriffs“ durch Privatpersonen noch keine strafbare Handlung vorliegt. Das Vorgehen der „Pedo Hunters“ könnte auch einen späteren Prozess beeinflussen. Die öffentlich gefilmten Bloßstellungen der Beschuldigten vor Ort – das seien Dinge, die Strafverteidiger anführen können, sagt eine Rechtsanwältin, die bereits Mandanten in dem Deliktfeld vertreten hat.
Und es gibt viele weitere offene Fragen: Was ist, wenn einmal der Falsche live in den sozialen Medien an den Pranger gestellt wird? Eine Konfrontation eskaliert? Wenn die „Pedo Hunters“ in Chats auf Jugendliche treffen, die teilweise selbst zu einem großen Teil Cybergrooming betreiben?
Die Videos von Marvin kennzeichnen ein Schwarz-Weiß-Denken. Beißt jemand an, steht für ihn das Urteil fest. Als er Thomas am Bahnsteig stellt, einen ängstlich wirkenden Mann in blauer Jeans, sagt er zu umstehenden Passanten: „Alles gut, Leute, da ist ein Pädophiler.“ Beamte führen Thomas zehn Minuten später ab, während die Livezuschauer Marvin feiern und ihm Herzen schicken. Auf Tiktok bietet er zusätzlich spezielle Abos für seinen Kanal an, für 2,99 Euro im Monat. 900 User seien derzeit dabei.
Doch was ist der Preis für den Internetruhm? Die Nachrichten und Genitalbilder, die teilweise noch viel drastischeren Nachrichten als jene von Thomas. Unter seinen Augen liegen dunkle Schatten. Marvin sagt, er träume nicht und schlafe schlecht. Mittlerweile sei er psychisch so sehr geschädigt, „dass es auch etwas Gutes ist, weil ich abgehärtet bin“. Allgemein habe er „eine sehr negative Meinung gegenüber Menschen“. Kinder wolle er dennoch einmal haben. „Weil ich ja weiß, wie ich sie beschützen muss.“
250.000 Betroffene
Pädophilie ist seit Jahrzehnten als psychische Störung von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannt. Die Signalverarbeitung sexueller Reize im Gehirn verursacht, dass kindliche Körperschema auf Betroffene erregend wirken, sagt Klaus Beier. Er leitet das an der Berliner Charité angesiedelte Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“.
Mehr Infos und Hilfe gibt es unter www.kein-taeter-werden.de
Schätzungen zufolge entwickeln in Deutschland 250.000 Menschen eine pädophile Sexualpräferenz.