Familienleben zum Schulanfang So funktioniert „Fullservice-Parenting“ für schlecht gelaunte Kinder
Wenn Kinder in die Schule kommen, wird das Leben als Eltern nicht unbedingt leichter. Das Wichtigste für Schulkind-Eltern weiß Erziehungsexpertin Nicola Schmidt.
Halle (Saale)/Magdeburg/MZ. - Nicola Schmidt beschäftigt sich in ihrer Arbeit und ihren Büchern mit der Frage, was für Kinder angemessen ist. Jetzt hat sie ein „Artgerecht“-Schulbuch geschrieben. Lena Högemann hat mit ihr über „Fullservice-Parenting“ in den richtigen Momenten, die größten Fehlannahmen von Eltern und nützliche Tipps, wie wir unsere Kinder gut in der Schule begleiten können, gesprochen.
Frau Schmidt, Ihre Bücher und Ihr Projekt heißen „Artgerecht“. Wie kam es zu diesem Projekt und zu diesem Namen?
Nicola Schmidt: Ich bin eigentlich Wissenschaftsjournalistin und Sozialwissenschaftlerin. Ich bekam mein erstes Kind und hatte nichts gelesen, wir hatten keine Erstausstattungslisten abgearbeitet, wir hatten einfach ein Kind.
Ich trug meinen Sohn die meiste Zeit Haut an Haut, er durfte bei mir schlafen und wurde gestillt, wenn er Hunger hatte. Das Kind entwickelte sich prima, aber mein Umfeld wurde immer nervöser. „Der entwickelt sich super, aber wie du es machst, das ist alles falsch“, haben alle gesagt. Also habe ich einfach mal nachgesehen, was die Wissenschaft denn dazu sagt.
Das Ergebnis war: Die Wissenschaft und mein Baby waren sich sehr einig. Darüber habe ich dann einen Blog geschrieben und daraus ist das erste „Artgerecht“-Buch entstanden, das „Artgerecht“-Babybuch.
Was sind denn die größten Fehlannahmen über Kinder. Was machen wir mit ihnen, das nicht artgerecht ist?
Nicola Schmidt: Wir unterschätzen total, wie viel Natur und Bewegung Kinder brauchen. Unsere Kinder sind ständig in geschlossenen Räumen und sollen dort ewig still sitzen, das ist nicht artgerecht. In der Schule werden sie mit Gleichaltrigen in einer Gruppe von einem Lehrer oder einer Lehrerin unterrichtet. Dafür sind wir gar nicht gemacht. Kinder sollten eigentlich in gemischten Gruppen etwas voneinander lernen.
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Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Ihr Kind zur Schule kam und Sie erwartet hatten, dass die Schule jetzt einen großen Teil der Erziehung und Bildung übernimmt und Sie nur noch Begleitperson sind. Warum war es genau nicht so? Was sind die größten Missverständnisse beim Schulstart des Kindes?
Nicola Schmidt: Wir Eltern denken: Jetzt haben wir es geschafft, das Kind kommt in die Schule. Aber das menschliche Gehirn ist erst mit 21 Jahren voll entwickelt. Unser Problem ist, dass wir zu viel mit unseren Kindern alleine sind und zu wenig Unterstützung haben. Deshalb fragen wir uns ständig, wann sie endlich groß sind. Eigentlich müssten wir uns fragen, wo denn dieses Dorf ist, das mit uns diese Kinder großzieht, dann hätten wir auch nicht diesen Druck, dass es jetzt endlich „geschafft“ sein muss.
Sie verwenden den Begriff des „Fullservice-Parenting“. Was genau meint das? Und wann muss ich das machen?
Nicola Schmidt: Ein Gehirn lernt dann, wenn es nicht unter Stress steht. Wenn das Kind gerade Stress hat, weil es morgens sein Lieblings-T-Shirt nicht findet, dann können Sie noch so oft sagen, dass es ruhig bleiben soll. Das Kind kann das in dieser Situation nicht lernen. In dieser Situation machen sich die Eltern die Situation noch schwieriger, wenn sie versuchen, einem gestressten Kind etwas beizubringen. Es dauert einfach länger.
Wenn das Gehirn nicht lernbereit ist, bekommen meine Kinder von mir „Fullservice-Parenting“. Ich hole und bringe, was sie brauchen, helfe beim Anziehen, auch wenn sie das eigentlich selbst können. Und wenn das Kind sich beruhigt hat, erst wenn das Gehirn wieder lernbereit ist, dann lernen wir das zusammen. Das ist der Trick. Konsequent sein heißt, sich konsequent nach der Verfassung des Kindes zu richten. Ist das Kind in schlechter Verfassung, heißt das „Fullservice-Parenting“, ist das Kind in guter Verfassung, heißt das, dass wir Regeln einhalten.
Ihr Buch hat an vielen Stellen ganz konkrete Tipps für Eltern von Schulkindern. Einer heißt „Drei Mal am Tag da sein“. Können Sie kurz erklären, wie das funktioniert und warum es wichtig ist?
Nicola Schmidt: Wenn wir im Stress sind, schalten wir auf Autopilot. Wir sind dann nicht höflich oder freundlich, wir sorgen einfach dafür, dass wir unsere Sachen geregelt kriegen. Das Problem ist, dass wir als Eltern ständig unter Stress stehen. Wir gehen zwar durch unseren Tag, aber wir fühlen es nicht mehr. Wir fühlen auch unsere Kinder nicht mehr.
Drei Mal am Tag heißt: Jeden Morgen das Kind freundlich begrüßen. Das zweite Mal ist, wenn die Kinder von der Schule nach Hause kommen. Sie sind dann voller Geschichten und wir können für sie da sein. Und als Drittes, wenn sie ins Bett gehen, können wir auch bei ihnen sein.
Sie weisen Eltern auf diverse romantisierte Vorstellungen von Schule hin, zum Beispiel „Eine Klasse ist wie eine große Familie“. Warum stimmt das nicht? Welche falschen Vorstellungen haben Eltern noch?
Nicola Schmidt: Eine Fehlannahme ist, dass Lehrkräfte sehr viel Zeit hätten, sehr individuell auf die Kinder einzugehen. Viele versuchen das, aber wenn Sie 30 Kinder in der Klasse haben, viele davon mit Integrationsbedarf, dann wird es mit einer engen Personaldecke schwierig. Wir können das nicht der Schule überlassen.
Wenn wir den Anfang der Schulzeit gut begleiten, können wir da alle langsam hineinwachsen.
Nicola Schmidt
Ich sage auch niemals: Jetzt beginnt der Ernst des Lebens, jetzt muss Leistung gezeigt werden. So erzeugen wir Druck, aber Schule sollte ein Spiel sein, Lernen sollte Spaß machen. Das heißt nicht, dass Kinder keine Disziplin lernen sollten, aber ich erreiche das nicht mit Druck.
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Sie geben dem Fokus aufs Lernen in der Schule eine klare Absage. Es gehe vielmehr um Persönlichkeitsentwicklung mithilfe von Menschen, die ihnen wohlwollend begegnen. Wie passt das in unser Schulsystem mit Noten, Zeugnissen, Klassenstufen und dem Ziel, möglichst viel zu lernen?
Nicola Schmidt: Lernen ist definitiv wichtig und richtig. Aber unser Schulsystem kommt aus dem Industriezeitalter, in dem wir dachten, Kinder sollten im selben Alter dasselbe lernen. Aber das funktioniert nicht. Ich sage nicht, dass das Schulsystem grundsätzlich schlecht ist. Es gibt Kinder, die funktionieren in dem System sehr gut, sie mögen die Noten und alles, was damit zusammenhängt.
Für andere Kinder ist das sehr schwierig. Wir bräuchten ein Schulsystem, in dem jedes Kind das bekommt, was es braucht. Es gibt viele gute Ansätze, schwierig wird es, wenn wir alle Kinder über einen Kamm scheren. Was uns außerdem fehlt, ist ein Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis. Andere Länder sind da viel weiter.
Sie schreiben, wir Eltern sollten die Hausaufgaben nie zwischen uns und unser Kind kommen lassen. Das machen viele Eltern anders. Ihnen ist es sehr wichtig, dass das Kind die Hausaufgaben macht – für die oben genannte Leistung. Sollen wir Eltern uns nicht darum kümmern, dass das Kind die Hausaufgaben macht?
Nicola Schmidt: Natürlich kümmern wir Eltern uns. Wenn wir das Kind damit allein lassen, bekommt das Kind am nächsten Tag eine schlechte Note und Ärger. Kinder müssen erst lernen, sich selbst zu organisieren. Die Wissenschaft sagt: Begleiten Sie das Kind, aber bauen Sie keinen Druck auf.
Ich habe das mit meinen Kindern so gemacht: Wir rechnen solange diese Aufgaben, bis ich das Gefühl habe, dass du es kannst, und den Rest machen wir mit dem Taschenrechner. Und wenn das Hausaufgabenpensum zu viel für unser Kind ist, können wir Eltern mit der Lehrkraft auch darüber reden.
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In Ihrem Buch geht es auch um das Familienleben, Ernährung, Körperhygiene, Zimmer aufräumen und vieles mehr. Verändert sich das alles mit dem Wechsel in die Schule? Warum ist das solch eine Zäsur?
Nicola Schmidt: Der Wechsel in die Schule verändert das Leben der Familien extrem. Sie müssen um acht Uhr da sein. Sie können nicht einfach eine Woche zuhause bleiben. Die Kinder müssen sich organisieren lernen, ständig an irgendwelche Sachen denken, die sie mitbringen müssen. Wenn wir den Anfang gut begleiten, können wir da alle langsam hineinwachsen.