ADHS, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Dyskalkulie Frau Niechzial, warum können Eltern enttäuscht sein, wenn sie keine Diagnose bekommen?
„Darin steckt Riesenpotenzial“: Grundschullehrerin Saskia Niechzial erklärt, was der Begriff Neurodivergenz bedeutet und wie Eltern damit umgehen können.
Von vielen Formen der Neurodivergenz haben Eltern schon gehört: von ADHS und Autismus zum Beispiel. Aber auch Hochbegabung, Dyskalkulie – eine Mathe-Schwäche – und die Lese-Rechtschreib-Schwäche gehören zu diesem Spektrum.
Die Lehrerin und Autorin Saskia Niechzial hat ein Buch über neurodivergente Kinder geschrieben. Lena Högemann hat mit der Autorin über Stärken der Kinder, Akzeptanz bei den Eltern und ihre eigene Diagnose gesprochen.
Frau Niechzial, zwei Ihrer drei Kinder sind neurodivergent. Sie beschreiben am Anfang Ihres Buches, wie Sie als Eltern die Diagnose für eines Ihrer Kinder bekommen haben. Hat Sie diese Erfahrung dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?
Saskia Niechzial: Ich beschreibe am Anfang meines Buches diesen Moment, aber das war ein langer Prozess: vom ersten Bauchgefühl und der Idee, dass das eigene Kind andere Verhaltensweisen zeigt als andere Kinder und man merkt, dass die typischen Begleitungstipps nicht richtig funktionieren. Ich habe mir mühsam Informationen zusammengesucht, gegoogelt, viel gelesen.
Eltern verbinden mit dem Prozess der Diagnose eine gewisse Hoffnung, eine Erklärung zu bekommen.“
Saskia Niechzial
Wenn ich anderen Eltern von meinen Gedanken erzählt habe, bekam ich viele ablehnende Kommentare und ich habe immer weniger darüber gesprochen. Ich habe viel an mir gezweifelt. Das Buch, das ich jetzt geschrieben habe, soll das Buch sein, das ich selbst für diesen Prozess gebraucht hätte.
Zur Neurodivergenz gehören ADHS, Autismus, aber auch Hochbegabung, Dyskalkulie und Lese-Rechtschreib-Schwäche. Was haben denn die Kinder in diesem Spektrum gemein?
Saskia Niechzial: Was die Kinder gemein haben, ist, dass sie aus dem Erwartungsrahmen fallen. Das wiederum bedeutet, dass sie oft früh negativem Feedback begegnen. Denn früher war der Ansatz in der Pädagogik, neurodivergente Merkmale wegzukriegen, weil es ja nicht normal ist. Es passiert auch heute noch, dass Menschen sogar von Krankheiten sprechen. Wenn wir aber abwerten, wie diese Kinder sind, verbuddeln wir ihr ganzes Potenzial.
Das, was für neurodivergente Kinder oft eine Herausforderung ist, kennen Eltern aus bestimmten Phasen ihrer Kinder. Sie wollen einfach nicht Zähne putzen oder das Einschlafen ist ein Kampf. Aber für Eltern neurodivergenter Kinder ist das immer der Fall. Wie können Eltern das meistern?
Saskia Niechzial: Wir Eltern begleiten unsere Kinder beim Großwerden so, wie sie sind. Wir wachsen ein Stück weit mit rein in diese Aufgabe. Ein ganz wichtiger Schritt für Eltern ist, zu verstehen.
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Ich finde den Satz der Autorin Nora Imlau dazu sehr treffend: „Unser Kind macht kein Drama, es erlebt das Drama.“ Das Zähneputzen ist ein gutes Beispiel. Für autistische Kinder ist es eine ganz große sensorische Herausforderung, diesen Gegenstand im Mund zu haben. Das ist ein riesiger Kraftakt und der braucht Begleitung.
Ihr Buch heißt „Ein Kopf voll Gold“, weil Sie zeigen möchten, dass Neurodivergenz keine Krankheit oder Schwäche ist. Was können neurodivergente Kinder gut?
Saskia Niechzial: Kinder mit ADHS zum Beispiel haben oft eine sehr schnelle Auffassungsgabe, wenn es eine Krisensituation gibt. Die Alltagssituationen sind eine Herausforderung, aber da wo schnelles Handeln erforderlich ist, können sich die Kinder binnen Sekunden einen Überblick verschaffen, Verknüpfungen herstellen und Lösungen finden.
Darin steckt ein Riesenpotenzial. Im späteren Berufsleben und im richtigen Kontext kann das eine große Stärke sein. Autistische Kinder zum Beispiel achten sehr genau auf Details und sie können schnell enttarnen, wenn jemand nicht authentisch ist oder lügt.
Ich rate Eltern neurodivergenter Kinder, sich die Biografien berühmter und erfolgreicher Menschen anzuschauen. Viele von ihnen sind neurodivergent. Sie haben es nicht trotz ihrer Neurodivergenz geschafft, sondern wegen.
Sie haben sich auch selbst entschieden, sich auf Neurodivergenz testen zu lassen. Sie haben ADHS mit Hochbegabung. Wie war es, als erwachsene Frau diese Diagnose zu bekommen?
Saskia Niechzial: Es kommt tatsächlich häufig vor, dass sich Eltern auf dem Diagnoseprozess ihrer Kinder irgendwann denken: Moment mal, das kommt mir alles irgendwie bekannt vor. Ich selbst bin als Kind nicht so begleitet worden, wie ich es bräuchte und habe das weit weg geschoben, um mich zu schützen.
Als mir das klar wurde, wollte ich wissen, was da los ist. Diese Diagnose zu bekommen, war sehr heilsam und ich wollte diese Klarheit auch für meine Kinder.
Die Frage, ob Eltern mit ihren Kindern den Weg für eine offizielle Diagnose gehen, kann sehr schwierig zu beantworten sein. Warum kann es wichtig sein, sich auf den Weg zur Diagnose zu machen?
Saskia Niechzial: Ich werde das am meisten gefragt, ob Eltern diesen Weg gehen sollten. Ich verstehe die Unsicherheit, ich war selbst an dem Punkt. Eltern denken, dass es – solange sie es noch nicht Schwarz auf Weiß haben – noch nicht real ist. Dabei machen die Kinder auch ohne offizielle Diagnose die gleichen ablehnenden Erfahrungen in ihrem Umfeld.
Die Kinder bekommen das gleiche Feedback, nur ohne Diagnose. Mit einer Diagnose können Kinder und Eltern das ganz anders einsortieren und auch dem Umfeld gegenüber kommunizieren. Kinder, die diese Antwort nicht haben, denken irgendwann: Ich versuch es doch anders, aber es klappt nicht. Dann denken sie, dass sie falsch sind. Genau das wollen wir nicht.
Es kommt auch vor, dass Eltern das Kind unterschiedlich einschätzen. Sie beschreiben, dass meist das Elternteil, das weniger Zeit mit dem Kind verbringt, einer möglichen Diagnose kritischer gegenübersteht.
Was können Paare tun, wenn einer von beiden dem Prozess noch kritisch gegenübersteht?
Saskia Niechzial: Es ist natürlich hilfreich, wenn beide Elternteile möglichst viel Zeit mit dem Kind verbringen. Wenn das aus irgendwelchen Gründen nicht geht, ist es wichtig, dass das Elternteil, das etwas beobachtet und sich in das Thema einliest, den anderen möglichst früh auf den Weg mitnimmt und nicht erst drei Jahre lang Bücher liest und dann ein Referat hält.
Das überfordert den Partner, der dem Thema noch nicht so aufgeschlossen gegenüber steht. Einen ersten Beratungstermin bei der Kinderärztin zu machen, kann ein erster Schritt sein. Von da kann es weitergehen zu speziellen Zentren oder Kinderpsychologen. Dort darf das skeptische Elternteil durchaus seine Zweifel äußern.
Sie erzählen in Ihrem Buch auch, dass Eltern enttäuscht sein können, wenn sie eben keine Diagnose bekommen. Warum?
Saskia Niechzial: Eltern verbinden mit dem Diagnoseprozess eine gewisse Hoffnung, eine Erklärung zu bekommen, die nicht ihnen die Schuld gibt. Viele Eltern fragen sich: War ich das? Habe ich etwas falsch gemacht? Natürlich ist es nicht das vorrangige Ziel des Diagnoseprozesses, die Eltern zu entlasten.
Aber es hilft, wenn sie mit einer Diagnose verstehen und kommunizieren können, warum sich ihr Kind auf bestimmte Art und Weise verhält. Wenn diese Antwort dann ausbleibt, weil das Kind keine Diagnose bekommt, kann das enttäuschen.
Eltern können sich aber auch ohne Diagnose Hilfe suchen. Bestimmte Therapieformen wie Logopädie, Ergotherapie und Psychotherapie sind gar nicht an eine Diagnose gebunden.
Es gibt immer auch die Möglichkeit, eine zweite Meinung einzuholen. Gerade bei Mädchen kann es sein, dass eine zweite Meinung zu anderen Ergebnissen kommt, weil Mädchen in der Forschung zur Neurodivergenz lange ausgeblendet worden sind.