Ernährung Ernährung: Süßer Kick für Szenegänger

Bonn/Berlin/dpa. - Zu Longdrinks schlecken Szene-Gänger Prickelpulver mit Himbeergeschmack, Schleckmuscheln werden zwischendurch genascht und handgemachte Bonbons gleich auf Vorrat gekauft: Süße Erinnerungen an die Kindheit liegen voll im Trend. Bei nostalgischen Bonbonmachern in Städten wie Berlin oder Hamburg stehen große «Kinder» Schlange, um sich altbekannte Süßigkeiten zu kaufen. Und mancher der Klassiker entwickelt sich sogar zum Szene-Renner.
Dazu zählt zum Beispiel das gute, alte Brausepulver: Tütchen auf, Brausepulver in die hohle Hand, dann langsam schlecken oder alles auf einen Rutsch in den Mund schütten - und schon schmeckt es prickelnd nach Himbeere, Orange oder Waldmeister. Was Erstklässler früher in der Pause für Pfennigbeträge am Schulkiosk erstanden, das peppt inzwischen bei Partygängern den Wodka-Drink auf - keine Frage, Süßigkeiten mit Erinnerungsfaktor haben Konjunktur.
Denn nicht nur Brausepulver hatte auf der diesjährigen Süßwarenmesse einen starken Auftritt, sagt Karsten Keunecke vom Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie in Bonn. Ein Comeback feiern derzeit ebenso Liebesperlen, auf altüberlieferte Weise hergestellte Bonbons oder Schokolade mit viel Kakao. «Der Süßwarenmarkt erlebt in Wellenbewegungen immer wieder, dass sich an gute alte Traditionen erinnert wird.»
Ohnehin sind die Bundesbürger wahre Naschkatzen: Durchschnittlich 30 Kilogramm Süßwaren ließen sich die Deutschen pro Kopf nach Angaben von Keunecke im vergangenen Jahr schmecken, davon 7,8 Kilogramm Schokolade und 5,8 Kilogramm Zuckerwaren. Unangefochtene Spitzenreiter im süßen Angebot waren Fruchtgummi und Lakritz.
Englischer Weingummi zeugte unter Kennern schon immer für einen guten Geschmack. Den altehrwürdigen Bären schützt das jedoch nicht vor modischen Kurskorrekturen. Inzwischen findet er sich in unzähligen Varianten, etwa als Rote-Grütze- oder Honig-Bär, als Osterhase oder feurig mit Chili-Geschmack.
Mehr als 100 verschiedene Sorten von Gummibär und Co. bieten etwa die «Bären-Treffs», von denen es zwischen Flensburg und Basel mittlerweile 30 Filialen gibt. Auch bisher Verzichtgeplagte wie Vegetarier, Veganer oder Diabetiker können hier zugreifen. Denn es gibt Mischungen ohne Gelatine, künstliche Farbstoffe oder Industriezucker. «Es läuft dermaßen gut, dass wir manchmal mit dem Nachschub nicht nachkommen», freut sich Inhaber Sven Fechner vom Bären-Treff in Hamburg. Seine größte Klientel seien 30- bis 50-jährige Büroangestellte und Akademiker. Und Kinder holen kostenlos ihre Tagesration ab. Denn vor dem Kaufen darf erst einmal probiert werden.
Dass der bunte Bär oder die Lakritzschnecke jemals in Vergessenheit geraten könnten, scheint so gut wie unmöglich. Und doch verschwinden manchmal auch einstige Bestseller plötzlich aus den Regalen, wie ein Blick in die Süßwarengeschichte zeigt. Für Anne Wolf und Fabian Leitner, Autoren des Buchs «Schön süß. Fünf Jahrzehnte Kultsüßigkeiten» (Europa Verlag, ISBN 3-203-84070-7, 19,90 Euro) stehen die für die jeweilige Zeit typischen Süßigkeiten auch für den deutschen Alltag. Die süßen Träume seien, nicht anders als Bikinis, Einbauküchen und TV-Serien, fester Bestandteil unserer Alltagskultur und Konsumgewohnheiten geworden.
Von den «Prickel-Pit»-Brausebonbons der Wirtschaftswunderjahre bis zu den «Chupa Chups»-Lollis der Neuzeit schlagen Wolf und Leitner den süßen Bogen. Neu verpackt und dem Zeitgeist angepasst werden viele der traditionellen Süßigkeiten bis heute in großen Mengen gelutscht oder gekaut. Für andere müssen wahre Liebhaber dagegen weite Wege auf sich nehmen - etwa weil sie nur noch von ebenfalls selten gewordenen Bonbonmachern hergestellt werden.
Ganz auf altüberlieferte Rezepturen setzt beispielsweise der «Bonbonmacher anno 1900», alias Hartmut Gerhards aus Aachen. Er zählt zu den wenigen Bonbonmachern in Deutschland, die ihr Zuckerwerk noch selbst aus natürlichen Zutaten über dem Feuer kochen. Wenn Gerhards auf Kunsthandwerksmärkten seine Ware feilbietet, führt er in seinem alten Zirkuswagen alle Gerätschaften mit sich. Dann kann zugesehen werden, wie Himbeerbonbons, Goldnüsse mit Knusperfüllung, Bayrisch Blockmalz und Pfefferminzkissen entstehen. Kindheitserinnerungen werden bei seinen Kunden von 40 Jahren an aufwärts geweckt, wenn er etwa vor Ostern Zuckerhasen aus Sahnekaramell zum Sortiment zählen.
In der «Bonbonmacherei» in Berlin gehen von Kiez-Kindern über Techno-Freaks und Szene-Leuten bis hin zu Anzugträgern und Omas alle Altersklassen ein und aus. Die vom Aussterben bedrohten Berliner Maiblätter - ein Bonbon mit Waldmeistergeschmack - waren für den ehemaligen Musiker Hjalmar Stecher einer der Gründe, das Handwerk zu erlernen: «Ich dachte mir, das kann nicht sein, dass schon wieder ein Nostalgieprodukt verloren geht.» Gedacht, getan - und seitdem ist das «Omabonbon» sein Spitzenprodukt. Auch von den anderen 34 ungefüllten und ungewickelten Hartkaramellen bleibt keine ein Ladenhüter. Denn Naschen und von vergangenen Zeiten träumen kann doch keine Sünde sein.