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Ehrlichkeit im Übermaß - Eine Gefahr in jeder Beziehung

Von Florian Sanktjohanser 12.02.2008, 08:20

Kaarst/dpa. - Vertrauen ist die Grundlage jeder Beziehung. Aber auch wenn es zunächst nach einem Widerspruch klingt: Damit man sich auf seine bessere Hälfte verlassen kann, sollten Partner nicht immer hundertprozentig ehrlich zueinander sein.

In manchen Situationen sollten sie die Wahrheit besser verschweigen oder sogar ein bisschen schwindeln. Denn schonungslose Offenheit kann das Vertrauen manchmal eher zerstören als bewahren.

«Die Forderung nach hundertprozentiger Offenheit und Ehrlichkeit ist einer der Hauptirrtümer über die Liebe», sagt Dorothee Döring, Paarberaterin aus dem nordrhein-westfälischen Kaarst. «Und völlige Ehrlichkeit ist weder möglich noch erstrebenswert.» Denn oft sei es besser für die Beziehung, wenn die Partner ihre Meinung für sich behalten - Männer zum Beispiel, wenn die Freundin fragt, ob ihr Po in der neuen Jeans dick aussieht. Und Frauen werden besser diplomatisch, wenn der Ehemann sich nach den Liebhaber-Qualitäten des Ex erkundigt.

Ebenso schädlich ist es, wenn Partner voneinander verlangen, sich minuziös über den Tagesablauf, intime Gespräche mit Freunden oder über die Vergangenheit vor der Beziehung Rechenschaft abzulegen, sagt die Paartherapeutin Claudia Viganske aus Köln: «Es muss nicht immer die komplette Vorgeschichte ausgewalzt werden.»

«Gegenüber einem sensiblen Partner, der mit der Wahrheit nicht umgehen kann, ist höfliches Schweigen oft verantwortungsvoller», fügt Paarcoach Tom Diesbrock aus Hamburg hinzu. Vor allem wenn die Vertrauensbasis durch vollkommene Ehrlichkeit erschüttert wird, ist Schweigen Gold. So rät Döring beispielsweise Menschen mit einem krankhaft eifersüchtigen Partner, diesem nicht von jeder harmlosen Begegnung zu erzählen. Damit schüren sie nur sein chronisches Misstrauen.

Besonders vorsichtig sollten auch Frischverliebte sein. Sie kennen die wunden Punkte des Partners noch nicht und können diesen ungewollt verletzen. Selbst bei einem Seitensprung ist es für ein unbeschwertes gemeinsames Weiterleben oft besser, den Fehltritt für sich zu behalten, sagt Döring. Denn durch ein Geständnis werde in vielen Fällen das Vertrauen unwiederbringlich zerstört. Es müsse aber zwischen einem einmaligen Ausrutscher - etwa nach einem trinkseligen Abend - und einer dauerhaften Affäre unterschieden werden.

Die Zeit, reinen Tisch zu machen, sei aber spätestens dann gekommen, wenn der oder die Gehörnte Verdacht geschöpft hat - sonst zerfrisst das Misstrauen langsam die Beziehung. Der Großteil der täglichen Lügen und Halbwahrheiten hat weitaus harmlosere Gründe als den sexuellen Betrug. Oft wird nur aus Bequemlichkeit geflunkert, um sich nicht mit dem Partner auseinandersetzen zu müssen, sagt Diesbrock. Warum zum Beispiel der Freundin die wahre Meinung über ihre neue Frisur sagen, wenn man mit einer charmanten Schwindelei seine Ruhe hat - und sie ohnehin nichts anderes hören will?

Ein anderes Motiv, bisweilen nicht alles zu sagen, betrifft vor allem Menschen mit einem negativen Selbstbild. Sie hätten Angst, durchschaut und abgelehnt zu werden - Gesprächspartner sind da besser vorsichtig, rät Diesbrock. Zudem gebe es viele Menschen, die offene Konflikte grundsätzlich als Katastrophe empfinden und deshalb scheuen. Sie haben meist als Kinder in der Familie nicht gelernt, Konflikte konstruktiv auszutragen und zu lösen.

Grundsätzlich rät Diesbrock Paaren, zu den eigenen Ansichten zu stehen und nicht zwanghaft nach Objektivität zu streben - auch wenn es dadurch zu Reibungen mit dem Partner kommt. Denn das Aufgeben der Individualität schade der Persönlichkeit und damit auch der Beziehung. Und ob man nun größtmögliche Offenheit in seiner Beziehung anstrebt oder lieber doch ein paar Geheimnisse für sich bewahrt - in erster Linie sei es wichtig, die Verantwortung für das gewählte Maß an Offenherzigkeit zu übernehmen: «Man muss sich nicht nur überlegen, ob man den Partner vielleicht lieber vor einer unbequemen Wahrheit schützen soll. Es geht auch darum, ob man mit dessen Reaktion zurecht kommt.»

INFO: Beim Seitensprung streiten die Gelehrten

Es kann für die Beziehung langfristig sogar besser sein, einen Seitensprung zu verschweigen - das sagen die einen. Die Paartherapeutin Claudia Viganske aus Köln dagegen plädiert in dieser Situation für schonungslose Ehrlichkeit. Denn Untreue sei meist auf tiefer liegende Probleme in der Beziehung zurückzuführen. Und wird der Seitensprung verschwiegen, blieben diese Probleme ihrer Ansicht nach unbearbeitet bestehen. Deshalb könne nur durch ein Geständnis die Ursache des Vertrauensbruchs gemeinsam ausgeräumt und wieder eine gesunde Beziehung aufgebaut werden.