1. MZ.de
  2. >
  3. Leben
  4. >
  5. Babys: Babys: Schreisprechstunde für genervte Eltern

Babys Babys: Schreisprechstunde für genervte Eltern

Von Joachim Baier 20.07.2005, 11:15

Leipzig/Halle/dpa. - «Wir sind voll belegt», sagt Peter Hiermann. Der Diplom-Psychologe leitet die Sprechstunde, die beim Start 1996 die erste ihrer Art in Ostdeutschland war. Zu unkontrolliert schreienden Babys zählen laut Hiermann Säuglinge, die mehr als drei Wochen Probleme bereiten und in diesem Zeitraum drei Tage pro Woche mehr als drei Stunden keine Ruhe geben. Über das Phänomen gibt es kaum Langzeitstudien. Hiermann vermutet aber, dass es zugenommen hat. «Das hängt sicherlich auch mit unserer Lebensweise zusammen. Manche Kinder können offensichtlich zudem schlecht abschalten.»

Solche Erfahrungen hat auch das Ehe- und Familienberatungszentrum IRIS in Halle gemacht. «Auch wir haben den Eindruck, dass das Problem der Schreikinder zugenommen hat», sagt Beraterin Sigrun Korger. «Das Bewusstsein für so etwas hat aber auch zugenommen. Allerdings rückt die Leistungsgesellschaft immer weiter vor. Die Eltern knüpfen Erwartungen an ihre Kinder. Es soll alles glatt laufen. Die Babys spüren das.»

Nach Studien aus den USA und Großbritannien haben Babys, die ohne erkennbaren Grund fortgesetzt weinen, später in der Kindheit Schwierigkeiten. Manche Experten bringen übermäßiges, unkontrolliertes Weinen mit Verhaltensproblemen und einem niedrigeren Intelligenzquotienten im Alter von fünf Jahren in Verbindung. Auch sollen diese Kinder eher anfällig für Neurodermitis und dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) sein.

Verschärft wird manche Familiensituation noch durch die angespannte Arbeitsmarktlage. «Mit dem ökonomischen Druck wächst auch der Druck auf die Familien», sagt Hiermann. «Ein Viertel der Hilfesuchenden sind allein Erziehende und Mütter, deren Männer im Westen auf Montage sind. Diesen Frauen fehlt das soziale Netzwerk. Sie leiden an Depressionen und Konflikten mit ihren Eltern und Schwiegereltern.» Die Folge: «Es fehlt an Zeit und Platz für die grundlegenden Bedürfnisse zwischen Eltern und dem Säugling.»

So sieht es auch der Verein IRIS. «Die Isolierung der Mutter spielt oft eine große Rolle, manche Väter sind die ganze Woche weg. Wenn eine Frau noch ein älteres Schulkind zu betreuen hat, entsteht Stress allein schon etwa durch ungüstige Kindergarten-Zeiten.»

In der Schreisprechstunde wird das Baby als erstes ärztlich untersucht, organische Schäden sollen ausgeschlossen werden. Dann wird die gesamte Familiensituation betrachtet: War die Schwangerschaft stressig, ist der Wohnraum zu eng, klappt es mit dem Stillen und Füttern? Die Eltern können von ihren Enttäuschungen erzählen.

Gemeinsam wird «ein spezielles Notfallprogramm entwickelt», sagt Hiermann. «Wie kann mehr Ruhe in die Familie hineinkommen? Viele Mütter haben seit Monaten nur bruchstückhaft geschlafen, sind deshalb übermüdet und auch depressiv.» Die Dinge, die gut laufen, soll die Familie beibehalten. «Ein großer Faktor ist die emotionale Entlastung. Wir wollen nicht mit neuen Ratschlägen kommen, sondern Fahrt aus der Familie heraus nehmen.» Auch IRIS hält es für wichtig, dass der Vater mit in die Beratung kommt. «Das bringt etwas. Der Vater gehört mit dazu», sagte Korger.