Alte Kunst im Aufschwung - Jugendliche entdecken den Zirkus
Hannover/dpa. - Für die Computer-Kids von heute ist die Kunst in der Manege altmodisch, exotisch - und vielleicht deshalb so faszinierend. Immer mehr Kinder und Jugendliche probieren sich in ihrer Freizeit als Artisten, Seiltänzer oder Trapezkünstler aus.
Während Feuerwehren oder Schützenvereine über Nachwuchsmangel klagen, gibt es in zum Beispiel in Niedersachsen mittlerweile etwa 100 junge Zirkusgruppen mit einigen 1000 Aktiven. «Uns hat die Laienzirkusbewegung hier im Land so fasziniert, dass wir zur Festivaleröffnung einen französischen Theaterzirkus eingeladen haben», sagt Stefan Schmidtke, Leiter des internationalen Festivals «Theaterformen» (10. bis 24. Juni in Hannover).
Vermittelt wurde der Kontakt zum Cirque désaccordé durch die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Zirkus. Denn zu der viel gerühmten Künstlertruppe aus Marseille gehört auch ein Artist aus Niedersachsen. Dirk Kober, der beim Kinderzirkus Fantasia in Fürstenau bei Osnabrück groß wurde, führt wegen einer Verletzung allerdings nur noch Regie. Beim Fest zum Auftakt des Festivals in Hannover zeigten zudem 140 heimische Nachwuchskünstler ihr Können. «Es ist Wahnsinn, wie sich Kinder für Zirkus begeistern lassen. Sie wollen so schnell lernen, man muss sie eher bremsen», sagt Wolfgang Pruisken, Vorsitzender der LAG Zirkus, der selbst Gruppen leitet.
Diese Erfahrung macht auch Nina Vega. 1985 gehörte die heute 35-Jährige zu den Gründungsmitgliedern des hannoverschen Kinderzirkus Giovanni, jetzt ist sie die Leiterin. Ursprünglich wollten die Jugendlichen nur in einem Ferienlager der Evangelischen Gemeinde Wettbergen ein bisschen Artistik und Jonglage ausprobieren. Doch dann fingen sie Feuer - der berühmte Zirkus Roncalli wurde schon im ersten Jahr auf die engagierte und originelle Truppe aufmerksam und lädt sie seither regelmäßig zu gemeinsamen Auftritten ein. Mit ihrem eigenen Zweimastzelt und eigener Kapelle touren derzeit 37 Kinder und Jugendliche durchs Land. Gastspiele führten sie bereits nach Sibirien und seit 2001 einmal im Jahr ins russische St. Petersburg.
«Das Schöne am Zirkus ist die starke Gemeinschaft. Jeder wird gebraucht, weil jeder irgendetwas besonders gut kann», sagt Nina Vega, die selbst ein Jahr lang als Profi-Seiltänzerin arbeitete und heute Drehbuchautorin ist. Der Kinderzirkus Giovanni ist ein Verein und finanziert sich aus seinen Auftritten. Die Eltern engagieren sich - vom Nähen der Kostüme über den Zeltaufbau bis zum Lenken des eigenen 7,5-Tonners und der Traktoren, mit dem das Equipment transportiert wird.
Die Truppen im Land inspirieren sich gegenseitig. Einige trainieren in Schulen wie zum Beispiel die «Zirkusschule Seifenblase» an einer Gesamtschule in Oldenburg oder der «Circus Tabasco» an der Rudolf-Steiner-Schule in Lüneburg. «Fast jede Waldorfschule hat eine Gruppe», berichtet Pruisken. Neben Kirchengemeinden und Schulen sind einige Zirkusse wie «Rastellino» in Lingen an theaterpädagogische Zentren oder andere Kultureinrichtungen angegliedert.
Besonders stolz ist Pruisken auf die «Circ'A Holix», eine Art Leistungstruppe mit Artisten aus allen Landesteilen, vergleichbar mit dem Niedersächsische Jugendsymphonieorchester in der Musik, wie er sagt. Regelmäßig trainiert die Truppe im «CentrO», einem Zentrum für Zirkuskunst in Hannover. Lehrer Pruisken, der vom Kultusministerium mit einigen Stunden für sein Zirkusengagement freigestellt ist, träumt davon, hier langfristig eine Zirkusschule zu etablieren. «Dann müssen angehende Profi-Artisten nicht zur Ausbildung nach Berlin oder Holland abwandern.» Um den Kindern und Jugendlichen in den vielen Freizeit-Truppen gerecht zu werden, sollte außerdem an deutschen Hochschulen ein Studiengang «Zirkuspädagogik» eingerichtet werden.