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Zum 100. Geburtstag Zum 100. Geburtstag: Heinrich Böll - wie sein Sohn René ihn sieht

31.01.2017, 11:00
Er brauchte Brot, Benzin und Zigaretten: Heinrich Böll, Erzähler und Literaturnobelpreisträger
Er brauchte Brot, Benzin und Zigaretten: Heinrich Böll, Erzähler und Literaturnobelpreisträger dpa

köln/wittenberg - Heinrich Böll (1917-1985), dessen Geburtstag sich am 21. Dezember zum 100. Mal jährt, gehört zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellern der Nachkriegszeit. Romane wie „Ansichten eines Clowns“ oder „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ waren Bestseller. 1972 erhielt er den Literaturnobelpreis. Mit seinem Sohn René (68) sprach Martin Oehlen.

Herr Böll, haben Sie als Künstler jemals Ihren Vater porträtiert?
Böll: Nein, nicht wirklich. Ich habe ihn mal von hinten porträtiert. Das war aber nur eine Skizze. Alles andere wäre ihm lästig gewesen, unangenehm. Es gibt auch nur wenige Porträts von ihm. Da war er eher zurückhaltend oder scheu.

Ihr Vater wurde hineingeboren in einen harten Winter, den sogenannten Steckrübenwinter. Wie hat sich die Erfahrung von Not und Hunger in Ihrem Familienleben ausgedrückt.
Böll: Brot war immer von entscheidender Bedeutung für uns. Meine Eltern haben – wie viele ihrer Generation – Essen nie wegschmeißen wollen. Sowas vererbt sich natürlich. Butter war wichtig, Zigaretten natürlich. Und Benzin fürs Auto. Um beweglich zu bleiben und wegfahren zu können. Mein Vater ist ja auch oft umgezogen, mein Großvater ebenso, ich glaube sechs oder sieben Mal.

Warum wechselte Ihr Vater so oft die Wohnung?
Böll: Er sagte dann immer: „Das Arbeitszimmer ist verbraucht.“ Dann wollte er ein neues Ambiente haben. Er hatte zeitweise ein Zimmer in der Stadt angemietet, wohin er sich zum Arbeiten zurückziehen konnte und seine Ruhe hatte.

Ruhe vor den Kindern?
Böll: Ja. Wir waren drei Jungen und auch mal laut. Das war schon ein unruhiger Haushalt. Er war dann auch in Irland oft wochenlang alleine. Da hatte er Ruhe vor all den Anforderungen, die auf ihn als Schriftsteller einstürmten, all die Telefonate und Briefe und die Anfragen der Presse.

Hat er auch mal „nein“ sagen können?
Böll: Darin war er nicht so gut. Das hätte er besser machen können. Wir haben vieles für ihn abgesagt. Verleugnet haben wir ihn auch am Telefon. Und einmal hat er das sogar selber gemacht.

Der Katholizismus spielte für Ihren Vater eine große Rolle. Ist es richtig, dass ihn das Werk von Léon Bloy geprägt hat, worin das Urchristentum und das Mitleiden gepriesen wird?
Böll: Das war eine wichtige Figur für ihn. Schon vor dem Weltkrieg und dann bis in die ersten Nachkriegsjahre hinein.

So war die katholische Prägung in der Familie sehr stark. Hat Ihr Vater Sie in diesem Sinne erzogen?
Böll: Wir wurden zwar katholisch erzogen, aber das war alles sehr liberal. All diese bürgerlichen Sachen waren meinem Vater eher unwichtig – auch die Schule.

Sie haben Ihren Vater auf Reisen öfters begleitet. Zusammen erlebten Sie 1968 das Ende des „Prager Frühlings“. Wie war das?
Böll: Das war dramatisch. Wir waren dort auf Einladung des Schriftstellerverbandes. In der Nacht nach unserer Ankunft hörten wir über uns die Militärflugzeuge und in den Straßen die Panzer, ich meine erkannt zu haben, dass darunter auch sowjetische Panzer waren. Wir wohnten am Wenzelsplatz, mitten im Geschehen. Dann sind wir auch mal an den Stadtrand gefahren, um Ostdeutsche zu treffen, fanden aber keine. Mein Vater hat noch ein paar illegale Radiointerviews gegeben. Ich selbst bin beschossen worden, als der Rundfunk gestürmt wurde und ich das beobachtete. Meine Eltern waren nicht dabei. Nach fünf Tagen sind wir zurückgefahren.

In welcher Rolle war Ihr Vater in Prag unterwegs?
Böll: Als Schriftsteller. So hat er sich immer verstanden. Nicht als Politiker. Er hat über seine Eindrücke auch einen Text geschrieben: „Der Panzer zielte auf Kafka“.

Im „Deutschen Herbst“ ist Ihr Vater Verdächtigungen ausgesetzt gewesen. Da wurden Sie mit einbezogen: Die Polizei, die nach Terroristen fahndete, hat Ihre Wohnung durchsucht. Warum?
Böll: Es soll einen anonymen Anruf gegeben haben, aber das glaube ich nicht. Die Polizei ist gezielt in unsere Wohnung eingebrochen. Angeblich hat sie den ganzen Häuserblock durchsucht, aber das stimmt nicht. Die haben eine Leiter genommen und die Scheibe zu unserer Wohnung im ersten Stock eingeschlagen. Wir waren nicht zu Hause, da meine Frau schwanger war und wir einen Termin beim Frauenarzt hatten.

Diese Durchsuchung hat unser Leben sehr beeinflusst. Wir mussten aus der Wohnung ausziehen – auch wegen der Hetze. Die Nachbarn sagten zu uns: „Beim Adolf hätte man Euch an die Wand gestellt.“ Es bleibt eben immer was hängen. Die Leute dachten: Die Polizei war doch nicht umsonst da! Damals hat die Polizei gesagt, dass kein Name an unserer Türe gestanden habe. Das aber war gelogen.

Auf Fotos wirkt Ihr Vater oft sehr ernst, auch melancholisch. Hat sich das auf die Kinder vererbt?
Böll: In gewisser Weise schon. Aber das kommt auch von meiner Mutter. Denn sie war immer sehr ruhig. Sie war für uns der ruhende Pol.

Sind Sie 1972 zur Überreichung des Literatur-Nobelpreises nach Stockholm gereist?
Böll: Bei der Preisverleihung selbst war ich nicht dabei. Aber ich war dabei, als er von dem Preis erfuhr, das war in Athen zur Zeit der Militärdiktatur. Er wusste vorher schon, dass er auf der Liste der möglichen Preisträger war – da standen wohl zehn Namen drauf. Aber er hat nicht daran geglaubt, dass die Wahl auf ihn fallen würde.

Und da bekam er dann im Hotel ein Telegramm, keinen Anruf. Er nahm das Telegramm an, ohne draufzugucken und steckte es erst einmal in die Tasche. Als er dann im Zimmer las, was da für eine Nachricht stand, war er schon sehr glücklich. Der deutsche Botschafter allerdings, der dann zu uns kam und die Glückwünsche überbrachte, war nicht so begeistert, der stand politisch, glaube ich, ganz woanders.

Gibt es noch Unveröffentlichtes?
Böll: Der Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann wird im nächsten Jahr herausgegeben. Da geht es um literarische Debatten unter Kollegen. Wir haben die Ingeborg Bachmann, als sie mit Max Frisch in Rom lebte, einmal besucht. Aber für meinen Vater war Rom nichts. Das war ihm viel zu heiß.

Wie entwickeln sich jetzt die Feiern zum Jubiläum?
Böll: Der Schwerpunkt liegt im September, Oktober, November. Nicht im Dezember selbst, in dem der Geburtstag am 21. ist. So kurz vor Weihnachten hat es wenig Sinn, eine Veranstaltung zu machen.

Bisher sind es rund 30 Veranstaltungen in Deutschland, drei in Irland – darunter die jährliche Tagung im Böll-Haus sowie eine Tour auf den Spuren des „Irischen Tagebuchs“ –, eine in Polen und vielleicht noch eine in Griechenland.

Woran sollte in diesem Jubiläumsjahr vor allem erinnert werden?
Böll: Sein literarisches Werk ist das Entscheidende. Mein Vater hat ja auch viel als Publizist und als Redner gewirkt. Doch das Wesentliche ist die Literatur.

Was wird bleiben von den Büchern Ihres Vaters?
Böll: Ich denke, dass der Roman „Fürsorgliche Belagerung“ immer noch nicht richtig erkannt worden ist. Bei seinem Erscheinen ist er von der Kritik schlecht besprochen worden. Da spielten sicher auch politische Gründe eine Rolle. „Frauen vor Flusslandschaften“ ist ebenfalls noch zu entdecken. Das gilt generell für die Romane.

Marcel Reich-Ranicki hat mal, was mich immer noch ärgert, sehr herablassend geschrieben: Es gebe in diesem Werk ein paar schöne Kurzgeschichten, aber den Rest könne man mehr oder weniger vergessen. Schwachsinn.

Das am besten verkaufte Buch Ihres Vaters ist ...
Böll: Immer noch „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“.

Und welches Buch Ihres Vaters ist Ihnen das wichtigste?
Böll: Das wechselt immer wieder. Das „Irische Tagebuch“ gehört dazu, weil ich das zu einem großen Teil selbst miterlebt habe.

Zur Person: René Böll

René Böll wurde am 31. Juli 1948 in Köln als dritter Sohn von Heinrich und Annemarie Böll geboren. Sein Bruder Christoph starb bereits im Geburtsjahr 1945. Weitere Brüder sind Raimund (1947-1982) und Vincent (1950 geboren). René Böll ist bildender Künstler und Verleger. Er studierte Malerei und Druckgrafik in Köln und Wien. Von 1975 bis 1988 war er Leiter des von ihm mitgegründeten Lamuv-Verlages und ist heute der Verwalter des Heinrich-Böll-Nachlasses.

Böll-Tagung in Wittenberg mit Vollmer und Schorlemmer

Unter dem Motto „Heinrich Böll - Politik und Geschichte im Spiegel literarischer Kritik“ veranstaltet die Evangelische Akademie in Wittenberg vom 3. bis 5. Februar eine dreitägige Konferenz. Die beginnt am 3. Februar um 16.30 Uhr in der Akademie, Schlossplatz 1d. Am 4. Februar um 16 Uhr spricht Friedrich Schorlemmer über die Böll-Rezeption in der DDR, 19.30 Uhr findet ein Gespräch mit der ehemaligen Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer über den politischen Böll statt, am 5. Februar 11 Uhr liest der Buchpreisträger Frank Witzel u. a. aus seinem Roman „Die Erfindung der Rote Armee-Fraktion...“ (red)