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Wittenberger Stadtkirche Wittenberger Stadtkirche: Ungewohnte Sicht auf den Cranach-Altar

Von Günter Kowa 23.06.2015, 06:16
Ebenfalls „wiederentdeckt“: Wo bisher nur Isaak zu sehen war, folgt ihm nun Abraham.
Ebenfalls „wiederentdeckt“: Wo bisher nur Isaak zu sehen war, folgt ihm nun Abraham. Martina Runge Lizenz

Wittenberg - Einer der bestbesuchten „Parallelstandorte“ der nahenden Wittenberger Ausstellung zu Lucas Cranach dem Jüngeren, die am Freitag eröffnet wird, dürfte die Stadtkirche mit dem „Reformationsaltar“ des Meisters werden, dessen 500. Geburtstag zu feiern ist. Schließlich ist die Kirche mit all ihren Zeugnissen des Glaubenswandels immer schon ein magischer Anziehungspunkt für Luthertouristen aus aller Welt gewesen. Erst seit kurzem ist die Kirche nach zwei Jahren Restaurierungsarbeiten wieder geöffnet. Und seit ein paar Tagen kam auch die Restaurierung des Cranachaltars zum Abschluss. Fast 90.000 Euro hat die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands (EKM) dafür an (Förder-)Geldern investiert.

"Wiederkehr" unterschlagender Details

Das dreiköpfige Berliner Team von Restauratoren, Martina Runge, Andreas Mieth und Roland Enge, hat den sichtbarsten Beitrag zu einer „neuen“ oder wenigstens ungewohnten Sicht auf den Altar geleistet, ja sogar für die „Wiederkehr“ von quasi unterschlagenen Details gesorgt. Zusammengenommen mit dem Ertrag von Forschungen zum Altar im Vorfeld von Ausstellung und Reformationsjubiläum ist es nun möglich, nicht nur den Altar, sondern die vom überragenden Vater überschattete Gestalt Cranach des Jüngeren in neuem Licht zu sehen. Umso mehr, wenn EKM, Gemeinde und Ausstellungsleitung noch die technisch aufgerüstete, aber völlig verunglückte Beleuchtungssituation verbessern.

Denn die, und nicht die den Tafeln zurückgegebene Helligkeit und Strahlkraft ist leider das erste, was dem Betrachter ins Auge fällt. Der neue Punktstrahler im Chorgewölbe sorgt für einen breiten Schlagschatten quer über der berühmten „Predigt“-Szene, dem Sinnbild der lutherischen Lehre.

Ins Dunkel getaucht

Luther, der von der Kanzel zum Kirchenvolk spricht, während im Raum geisterhaft der gekreuzigte Christus erscheint, ist wie dieser bis zur Brust in Dunkel getaucht. Ein anderer Strahler sorgt am Kabinettstück protestantischer Propaganda, dem „Weinberg“-Epitaph für Paulus Eber an der westlichen Chorwand, einen ebenso kräftigen Schlagschatten.

Wie diese Probleme zu lösen sind, darüber wird nach Auskunft der EKM-Kunstbeauftragten Bettina Seyderhelm derzeit intensiv nachgedacht. Mit hoffentlich befriedigendem Ergebnis, muss man im Hinblick auf das breite, ja internationale Interesse an den reformatorischen Kunstschätzen der Wittenberger Stadtkirche sagen. Buchstäblich überschattet das Lichtdefizit den enormen Gewinn, den Restaurierung und Forschung für den Altar erbracht haben.

Die Predigtszene zum Beispiel. Auf der sieht man jetzt mehr als seit fast 90 Jahren. 1822 ersetzte ein neugotischer Rahmen die ursprüngliche Rahmung des Flügelaltars, bis 1928 die Tafeln in den heute noch vorhandenen starren Rahmen eingefügt wurden. Jedoch hatte sich der Tischlermeister um wenige Millimeter verrechnet, die Tafeln passten nicht. Einige wurden kurzerhand an den Rändern beschnitten und, um die Kante zu kaschieren, mit einer neuen, inneren Rahmenleiste versehen. Diese verdeckte schmale Streifen von Malfläche an den Rändern und wurde außerdem auch noch mit Brachialgewalt aufgenagelt.

Auf der nächsten Seite lesen Sie unter anderem mehr über die Restaurierung der Predigtszene.

Durch die Restaurierung hat der Raum der Predigtszene Boden nach vorne und oben gewonnen. Das Kruzifix, das gewissermaßen an die Decke stieß, steht frei und „schwebend“, wie es gedacht war. Unter den Zuhörern am linken Bildrand ist eine junge Frau „aufgetaucht“, die mit gesenktem Blick lauscht; ein Loch, das der eingeschlagene Nagel in ihrer Kopfbedeckung hinterließ, musste retuschiert werden. Ein weiterer Zugewinn ist auf der Rückseite des rechten Flügels zu sehen, wenn auch vom Boden aus ohne Fernglas kaum wahrnehmbar. Cranach zeigt im fernen Landschaftshintergrund der Opferszene Abraham und Isaaks, wie der Sohn, das Brennholz auf dem Rücken, zur Anhöhe strebt; doch nun sieht man auch seinen ihn begleitenden Vater wieder - in einer Darstellung von berührender Unschuld und familiärer Innigkeit.

Allen Tafeln ist die Abnahme einer Lage verschmutzten Firnis’ zugute gekommen. Das steigert die Qualitätswahrnehmung sehr. Luthers Augenlider zum Beispiel sind nicht mehr schwer und gerötet. Umso bedeutsamer, dass das Werk nun doch Cranach dem Jüngeren zugeordnet werden kann, wie es aus neuen kunsthistorischen und archivalischen Forschungen von Insa Christiane Hennen hervorgeht, die am interdisziplinären Forschungsprojekt „Ernestinisches Wittenberg“ mitarbeitet.

Die Marke „Cranach“

Nach ihren Studien, die auch in den Ausstellungskatalog und die geplante mediale Darstellung des Altars in der Sakristei der Stadtkirche einfließen werden, decken die Zahlungen für den Altar den Zeitraum zwischen August 1547 und Januar 1548 ab. Einmal sind sie an den „Jungen Lucas Cranach“, sonst unterschiedslos an „Lucas Maler“ gerichtet. Es ist die Zeit des Übergangs der Werkstatt vom Vater auf den Sohn, die alle Interesse daran hatten, dass die „Marke“ Cranach ihren Glanz behält.

Im Kreis der Dargestellten sind die Auftraggeber zu finden, Akteure der „Medienbranche“ der Drucker und Verleger, die den Rat beherrschten. Sie feiern den glimpflichen Ausgang der Kapitulation Wittenbergs nach dem Schmalkaldischen Krieg und sehen in Melanchthon den Garant der protestantischen Sache. Mit ihm werden sie auch künftig am Tisch des Herrn vertreten sein. (mz)