1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Wilhelm von Kügelgen: Wilhelm von Kügelgen: Erinnerungsbilder des jungen alten Mannes

Wilhelm von Kügelgen Wilhelm von Kügelgen: Erinnerungsbilder des jungen alten Mannes

Von Simone Trieder 18.11.2002, 15:02

Halle/MZ. - Der Alte Mann wird am Mittwoch 200. Wilhelm von Kügelgen hat das Glück, dass sein Name meist mit der Jugend in Verbindung gebracht wird. Denn dieses eine Buch des Malers machte ihn berühmter als alle seine Bilder. "Die Jugenderinnerungen eines Alten Mannes" sind ein einzigartiges Zeugnis der Kultur des Biedermeier.

Kügelgens Kindheit fällt in eine politisch bewegte Zeit, er erlebt die Besetzungs Dresdens durch Napoleon mit. Allem Kriegsgeklirr zum Trotz pflegt die Familie ein offenes Haus, dem bekannte Männer freundschaftlich verbunden sind: der Maler Caspar David Friedrich und Goethe, der das Wohnhaus der Kügelgens wählte, um den Einzug der russischen und preußischen Monarchen zu beobachten.

Der kleine Wilhelm bewunderte den großen Mann "wie einen Walfisch oder Elefanten". Als Kügelgen sich erinnern will, hat er die 50schon überschritten. Im Gegensatz zu seiner bewegten Kindheit - bis zu seinem dritten Lebensjahr zog die Familie von Petersburg an den Rhein und nach Dresden - war er nun in Ballenstedt im Harz sesshaft. Als Maler zunächst am Hof des letzten Herzogs von Anhalt-Bernburg, der in Ballenstadt residierte, später als Krankenwärter des geistesgestörten Herzogs in der Stellung eines Kammerherrn. Der Posten sicherte seiner großen Familie den Unterhalt. Denn die Malerei hatte er wegen einer sich verstärkenden Rot-Grün-Blindheit aufgeben müssen. Das Schreiben wurde ihm zum Lebenselexier.

Fast 30Jahre lang schreibt Kügelgen lange Briefe an seinen jüngeren Bruder Gerhard nach Estland, die er als Herausgeber später "Lebenserinnerungen des Alten Mannes" nennen wird, um an den Erfolg der Jugenderinnerungen anzuknüpfen. Jeder sucht in dem anderen die eigene Kindheit wieder. Gerhard, Landwirt in Estland, vermisst den Glanz des Ballenstedter Herzogshofes. Dort war er im Alter von zehn Jahren mit Wilhelm zum kindlichen Gesellschafter des Erbprinzen Alexander Carl bestellt. Sie mussten dem Prinzen immer wieder das gleiche öde Kaspertheater vorspielen, stöhnt Wilhelm in den "Jugenderinnerungen".

Wilhelm wiederum sehnt sich nach Estland, wo er in frühester Kindheit und später ein sehr entscheidendes Jahr gelebt hat. Seine Mutter entstammt dieser Gegend, nach dem Tod des Vaters zog die Familie auf das großväterliche Gut Poll nach Estland. Wilhelm von Kügelgen hatte ein schockhaftes Erlebnis zu verarbeiten, mit dem er seine "Jugenderinnerungen" abschließt: Der Vater war ermordet worden und der 17-jährige Wilhelm hatte ihn entdeckt: nackt in einer Ackerfurche. Fortan fand der Junge Ablenkung in der Schönheit der estnischen Jahreszeiten. Vor allem in der kalten Zeit sehnt sich Wilhelm später aus seinem "Brummstall" in Ballenstedt nach Norden, "mal wieder Moorhühner jagen".

Die "Jugenderinnerungen" erschienen drei Jahre nach dem Tode Wilhelm von Kügelgens 1870 und zählen zu den bedeutendsten Memoirenwerken des 19.Jahrhunderts. Die Briefe an den Bruder Gerhard dokumentieren lebendig die letzten 33 Jahre seines Lebens. Der Verleger schob noch den "fehlenden" Zwischenteil ein: "Zwischen Jugend und Reife des Alten Mannes", Reiseberichte und Tagebücher. Noch im letzten Brief an Gerhard kann der todkranke Wilhelm es sich nicht versagen, dem Bruder den Mund wässrig zu machen.

Er schreibt von der "entsetzlichen Teilnahme" seiner Umgebung an seiner Krankheit und zählt auf, was so ins Haus kommt: Zarte Wildbraten von der Tafel der Herzogin, aus Köthen eine reiche Sendung frischer Kiebitzeier, russischer Kaviar, Gänsebrüste, eine prachtvolle Marzipantorte aus Königsberg. Zuletzt noch ein Fluch auf die Franzosen, dann schwieg der Alte Mann.