Wartburg Wartburg: Zum Teufel mit der Tinte
EISENACH/MZ. - Hatte also der 38-Jährige hoch über Eisenach die Nerven verloren, um sich psychodynamisch mit einem Zielwurf zu lockern? Der Volksmund sagt: Ja. Die Wissenschaft: Nein. Was sagt Luther? Na ja.
Zehn Monate sitzt Luther auf der Wartburg fest, dem Zugriff des Kaisers entzogen. In einer Bohlenstube samt Schlafkammer haust er: "ferne von allen Leuten". Isolationshaft auf buchstäblich hohem Niveau. Geräusche hört er, die sich ins Dämonische auswachsen. Von einer Kiste Haselnüsse ist die Rede, die nachts am Bette "rumpelt". Der Teufel ist immer da, schwatzt und höhnt. Luther nennt ihn den "Geist des Trübsinns". Den muss er abwehren, um die Übertragung der Bibel ins Deutsche zu schaffen. Abwehren. Aber wie? Mit einem Tintenfass, das ein Tintenhörnchen war, ein Gefäß aus Widder-Horn?
Um 1650 wird der Tintenfleck in der Lutherstube erstmals erwähnt, erklärt der Direktor der Wartburg-Stiftung Günter Schuchardt. Goethe habe den Fleck erblickt, die Brüder Grimm schreiben davon. Um 1900 verschwindet das Zeichen, Mitte der 1990er Jahre taucht es wieder auf: als Frage der Denkmalpflege. Nachpinseln oder nicht?
Ein Fall für Bazon Brock. Seit Jahrzehnten ist der Ästhetik-Professor aus Wuppertal an der Nahtstelle von Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft unterwegs. 73 Jahre alt ist der "Wundergreis", der ein Universalgelehrter, Aktionskünstler und Volkspädagoge von Rang ist. Dienstagabend lud Brock auf die Wartburg, um den Tintenfasswurf nachzustellen. "Experimentelle Geschichtsschreibung" nennt er das Verfahren, um die "historische Wahrheit mit dem populären Evidenzerleben" zu versöhnen.
Die Evidenz ist das Offensichtliche, bekundet durch Anschauung oder Legende. Die Wissenschaft ist das Nein der Denkmalpflege. Die Kunst ist das Medium, zwischen beiden zu vermitteln. Wie plausibel ist die Tintentat? Was erzählt das, was über den Wurf erzählt wird? Gemeinsam mit dem halleschen Maler Moritz Götze schreitet Brock auf der Wartburg zur Tat.
Schon am frühen Abend: Tintenschwärze liegt über Thüringen, der Mond im Nebel, fünf Grad zeigt im Burghof das Thermometer. Tief im Tal glitzert Eisenach und sieht viel größer aus als am Tage. Die Lutherstube aber wird kleiner, je näher man ihr kommt. Der Boden ist mit Folie und Pappe belegt. Links vom grünen Kachelofen steht ein kleiderschrankhoher Schrein. 150 Mal wollen Brock und Götze aus der Sitzposition heraus mit Gallus-Tinte gefüllte Glaskugeln aus Lauscha werfen. Jeweils gegen ein Blatt Büttenpapier, signiert von Brock und Götze: jeder Wurf ein Werk. Im Handel das Stück für 800 Euro.
Brock trägt einen blauen, Götze einen weißen Baumarkt-Schutzanzug. Sieht aus wie ein Einsatz bei Vogelgrippe. Brock darf als Erster werfen und trifft, das ist nicht selbstverständlich. Brocks Würfe zeigen einen Links-, Götzes einen Rechtsdrall. Zack, knack, klatsch im Minutentakt. "Rock'n'Roll", feuert sich Moritz Götze selbst an. Bazon Brock doziert: "Luther ist der erste Konzeptkünstler." Der hat ein Werk zu schaffen: die deutsche Bibel. Wie ein Künstler hat sich Luther von der Mitwelt zu isolieren. Denn da sind die Geräusche: Die syntaktische Ebene (der Laut) ist von der semantischen (die Bedrohung) zu lösen. Da ist das Raumerlebnis: klaustrophobisch. Und da ist der Mann: seelisch im Ausnahmezustand. Was leistet die Bibel? "Luther fesselt den Geist in Buchstaben." Ein Akt der Zivilisation.
Dem Teufel könne das nicht passen. Der stehe für das wuchernde, entfesselte Prinzip, sagt Brock. Geistes- und Kulturgeschichte fließen ineinander. Volksaufklärung zwischen Tür und Angel. Und dann noch zielen. Nicht jeder Wurf trifft. Plötzlich fällt das Licht aus. Zappenduster ist es im Stübchen. Der Teufel? Die Sicherung? Großes Palaver. Nur Brock schweigt, steht auf, tapert im Blaumann aus dem Dunkel heraus und drückt stumm den Lichtschalter am Türrahmen. Kaum zu glauben: Da wird es hell!
Das Resultat des Experimentes? Die Legende hätte begriffen: Luther bekämpfte den Teufel mit der Tinte, ein Wissen, das in das Bild vom Tintenfasswurf einging. Psychodynamisch sei der Wurf sehr plausibel: Stress, der sich entlädt. Auch im Starkdeutsch der Lutherbibel finde die Situation ihren Ausdruck, sagt Brock. "Luther schreibt ideoplastisch", also geistgestalterisch. Alles in allem: Der Geist der Tat ist wahr, nur der Buchstabe fehlt.
24 Geschichtsorte will Bazon Brock in den nächsten Jahren erkunden, an einem "Lehrpfad der historischen Imagination" entlang, den er frei nach Thomas Mann "Deutschaschern" nennt. Auch nach Quedlinburg und Mücheln bei Halle soll es gehen, stets im Geleit des Denkmalschutzes. Um die Vergegenwärtigung der Vergangenheit geht es Brock, auch um die erzählte Zukunft unserer Gegenwart zu verstehen. Wir sehen doch, sagt er, wie eine Verklärung der DDR voraneilt, die politische Wirkkraft besitzt. Was Brock bietet, ist Volksbildung im besten Sinn. Man versteht nicht alles, aber vieles besser.
Bazon Brock lädt zum Symposium "Musealisierung als Zivilisationsstrategie": 24.11., Berlin, Kunsthalle auf dem Schlossplatz, 12-24 Uhr. Dort Präsentation von einigen neuen Tintenfass-Flecken. Eintritt frei.