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Blick runderaus Volker Braun wird 80 und legt zwei neue Bücher vor

Von Christian Eger 07.05.2019, 08:00
Volker Braun: „Lebe ich wirklich?“
Volker Braun: „Lebe ich wirklich?“ gerd engelsmann/berliner kurier

Halle (Saale) - Mit der DDR hatte Volker Braun bereits 1980 abgeschlossen: nicht öffentlich, aber persönlich. Schon damals sei dem Schriftsteller „elend bewusst“ geworden, „dass auch diese Sache hier nur für das halbe Leben langt“, sagte er nach 1989. Der Autor, der in Leipzig Philosophie studiert hatte und aus der SED heraus den SED-Staat gereimt und ungereimt kritisierte, hatte das Gefühl, den Mechanismus durchschaut zu haben, mit der Sache „fertig zu sein“.

40 Jahre alt war er, der berühmteste lebende Dichter im Osten. Aber in seinen politischen Hoffnungen bereits abgelebt. Wie konnte Braun weiter machen damals? Indem er, wie er sagte, auf das Leben setzte als „das eigentliche Element“.

Volker Braun: Nie redselig, nie belanglos

Noch einmal 40 Jahre danach befindet sich der Dichter in einer vergleichbaren Situation. Wieder ist etwas abgeschlossen, ein zweites Nachleben 30 Jahre nach dem Ende der DDR abgelebt und damit Brauns Hoffnung, dass auf die Sozialismus- die allgemeine Kapitalismuskritik erfolgen würde. Heute wird Volker Braun, der bedeutendste deutsche politische Dichter nach Brecht, 80 Jahre alt und er fragt sich: „Lebe ich wirklich? Habe ich es verwirkt?“

Fragen, die auf der Rückseite seines neuen Buches mit dem Titel „Handstreiche“ stehen. Eine Sammlung von Aphorismen und Notaten, die nicht allein gedankliche Angriffe auf die Gegenwart, sondern vor allem gegen den Autor selbst enthalten. Braun besichtigt sich selbst: sein Leben, Denken, Schreiben.

Und er tut das in der ihm eigenen einzigartigen sprachlich artistischen Prägnanz. Im Gegensatz etwa zu Martin Walser, der in diesem Genre viele Bücher lieferte, ist Braun nie redselig. Und im Gegensatz zu dem Gedankenschriftsteller Botho Strauß nicht sentimental. Und niemals belanglos.

Volker Braun: Politischer Schriftsteller mit Poesie

Die Einträge beginnen: „Ohne Vorsicht und Sicherungen im Gesicht, ich blicke rundheraus. Man liest mir alles an den Zügen ab.“ Nächster Eintrag: „Die Habsucht der Augen. Meine Habseligkeiten.“ Dann: „Bei Sinnen sein: eigensinnig!“ Die Handstreiche werden nicht nach links oder rechts, sondern geradezu geführt. Heiter, wenn es in die Natur geht: „Die Arbeit des Windes, das wär mein Ding. Und der Duft, den die Linden erzeugen!“

Braun will aus sich selbst heraus. Die Innenblicke verraten das: „Mitunter stößt er auf sich selbst. Ein glückliches, verwegenes Wesen. Wie konnte er es ganz vergessen?“ Halbernste („Was war meine Schuld? Ein Leben in Saus und Graus.“) wechseln mit ernsten Befunden: „er zögerte sein Leben lang.“ Die gesellschaftliche Gegenwart nervt: „Einst die Erntestände im Fernsehen, jetzt die Kursverläufe. Das Agrarische, Großflächige hat dich aufgebraucht, das Kleinkarierte, Pekuniäre ringt dich nieder.“

Als politischer ist Braun immer ein poetischer Schriftsteller; was er schreibt, ist immer schön gesagt. Das ist nicht nur ein Vorteil, denn der poetische Hammer ist oft zu breit, um den politischen Punkt wirkungsvoll zu treffen. Das Politische ist konkret und nicht poetisch. Wen etwa meint Braun, wenn er heute „wir“ sagt? Wie stets versucht Braun das Unmögliche: dabeisein, aber nicht dazugehören; in Gesellschaft leben, aber nicht in einem Staat; das Realistische fordern, aber das Idyllische lieben. Soll es konkret werden, wird es auf gut Sächsisch stets etwas „fischelant“: kurvenreich kunstvoll.

Volker Braun: Im Freien denken

„Verlagerung des geheimen Punktes“ heißt das zweite neue Buch von Braun. Es bietet „Schriften und Reden“ aus den Jahren 1977 bis 2018, darunter fünf bislang nicht veröffentlichte. Der „geheime Punkt“ ist der, den Goethe bei Shakespeare entdeckte, der Punkt, in dem das menschliche auf das naturgesetzliche Wollen trifft. Braun verortet den Punkt neu, weil der Mensch das Naturnotwendige längst aus den Angeln heben kann. Von hier aus wäre eine neue Ethik zu finden.

Aber wie? Sich der Macht widersetzen, freischaufeln aus dem „Müll der Meinungen“, sich der „leibeigenen Existenz“ zuwenden, empfiehlt Braun. Was kommt, zeigt er in seiner Lessingpreis-Rede von 2018: „die große Völkervermischung, der Verlust einer vermeintlichen Identität wird der weltumgreifende Konflikt“. Zwei Befunde hat Braun für die aktuelle Gegenwart: „Den gegensätzlichen, widerstreitenden Meinungen ist eigen: daß sie alle recht haben.“ Und: „Wir sollten uns eine Weile allen Geredes enthalten, vor allem der deutschen Meinungen über andere Völker.“

Wem das zu harte Kost ist, der sollte nach den „Handstreichen“ greifen, die leichthändige mit der schwergängigen Lektüre verbinden. Die „Handstreiche“ enden: „Heißer Abend. Aus dem Gehölz die Stimmen, Pirol, Zeisig, Zilpzalp, Grünfink. Die Holztaube natürlich. Umfassende Aussprache über das Wesentliche. Fast glaube ich, daß sie genügt und ich keine weitere Diskussionen wünsche.“ Das Denken ins Freie tragen, darum geht es Volker Braun.

Volker Braun: Handstreiche. 81 S., 18 Euro. Und: Verlagerung des geheimen Punkts. Schriften und Reden, 319 S,, 28 Euro, beides bei Suhrkamp (mz)