«Verräter» der DDR «Verräter» der DDR: Flucht im Straßenkreuzer
BERLIN/MZ. - Erst waren sie Helden, dann Verräter, über die man nicht mehr sprechen sollte im Reich der Arbeiter und Bauern: Sportler wie der Erfurter Mittelstreckenläufer Jürgen May und der aus Heiligenstadt in Thüringen stammende Turner Wolfgang Thüne flohen aus der DDR in den Westen. Ausgerechnet sie, die an einem besonders wichtigen Frontabschnitt des Klassenkampfes ihren Auftrag für die SED erfüllen sollten.
Diesem Thema, vor allem aber den Schicksalen von 15 ausgewählten Sportlerinnen und Sportlern widmet sich bis zum 28. August vor dem Hintergrund des 50. Jahrestages des Mauerbaus die Ausstellung "ZOV Sportverräter - Spitzenathleten auf der Flucht".
Sie wird in der SPD-Zentrale, dem Willy-Brandt-Haus in Berlin-Kreuzberg, gezeigt, dessen Freundeskreis die von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderte Schau präsentiert. Die in Berlin lebende mexikanische Künstlerin Laura Soria hat einen kompakten, anschaulichen Parcours durch ein aufregendes Kapitel deutsch-deutscher Geschichte geschaffen. Jeder der Athleten hat eine eigene Abteilung, auf Schautafeln werden zeitgenössische Pressestimmen dokumentiert, die Hauptpersonen selber kommen in ausführlichen Video-Interviews zu Wort.
Das ist im politischen Ganzen wie im Privaten hochinteressant, teils sind die Fakten auch unbekannt inzwischen. Immerhin liegen die Fluchtgeschichten Jahrzehnte zurück. Wer alt genug ist, sich an seine eigenen Reaktionen zu erinnern, wird vielleicht auch ein wenig beschämt sein. Nicht selten sind die Flüchtlinge als undankbar gescholten worden - nicht in erster Linie, weil die Agitatoren das vorbeteten und sich auch ein gewisser DDR-Patriotismus im Volke etabliert hatte, sondern in der Hauptsache wohl aus schlichtem, uneingestandenem Neid. Jedermann hatte doch ein Bild von den unvergleichlichen Privilegien vor Augen, die den besten der Staatsprofis zuteil wurden: Auto und eigene Wohnung ohne Wartezeit, viel Geld, schöne Reisen in die weite Welt. Sämtlich Dinge, von denen wir kleinen Ost-Moritze nur träumen konnten. Und dann hauten diese Halunken einfach ab!
Was wenige wussten, war, unter welchem Druck die DDR-Botschafter in Turnhosen standen. Sie sollten und mussten aller Welt zeigen, wie überlegen das sozialistische System war. Dafür hatten sie sich zu schinden, gegebenenfalls auch unter Einfluss von Dopingmitteln. Und wenn sie versagten, warf die DDR-Sportführung sie ohne mit der Wimper zu zucken weg.
Jürgen May, dem aus Nordhausen gebürtigen Superläufer, ist es so ergangen. 1965 war er noch zum Sportler des Jahres gekürt worden, die Zeitungen, namentlich das Erfurter "Volk", platzten fast vor Stolz auf den Goldjungen. Europa- und Weltrekorde hatte er geknackt und sogar den berühmten Kenianer Kipchoge Keino bei einem Schaukampf in Neuseeland über die Meile bezwungen. 1966 ließ sich May bei der Europameisterschaft in Budapest als Werber in den Krieg zwischen den beiden großen deutschen Turnschuh-Herstellern aus Herzogenaurach verwickeln. 100 Dollar Prämie sprangen für ihn heraus, weil er seinen Kameraden Jürgen Haase zu Puma zu locken versucht hatte. Und dann die lebenslange Sperre, von Erich Honecker persönlich mit seinem üblichen, lakonischen "Einverstanden" abgesegnet.
May ist ein Jahr später über Ungarn nach Jugoslawien geflüchtet, im Kotflügel eines Straßenkreuzers versteckt. Wolfgang Thüne, Turner beim Armeesportklub Vorwärts Potsdam, "reiste" im Kofferraum seines westdeutschen Kollegen und Freundes Eberhard Gienger von Bern in die Bundesrepublik. Ein DDR-Militärgericht verurteilte Thüne in Abwesenheit zu zwölf Jahren Zuchthaus.
Die Hürdensprinterin Karin Richert, spätere Balzer indes, die auch für Chemie Halle-Leuna gestartet war, kehrte nach ihrer Flucht 1958 gemeinsam mit ihrem Trainer und Lebensgefährten in die DDR zurück - aus Sorge, ihre Familien könnten Repressalien ausgesetzt werden. Die Stasi hatte eigens Mitarbeiter und Richerts Vater nach Ludwigshafen geschickt, um die Athletin unter Druck zu setzen. Mit Erfolg, den die DDR-Propaganda weidlich zu feiern wusste.
Willy-Brandt-Haus Berlin, Wilhelmstraße 140, bis zum 28. August, Di-So 12-18 Uhr, Eintritt frei, aber Ausweis, Pass oder Führerschein erforderlich