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Verehrt, vermarktet, verrottet - das Grab von Karl Marx

Von Oliver Hollenstein 12.03.2008, 09:23

London/dpa. - Welk und traurig liegt die Rose auf dem kleinen Steinvorsprung. Mit einer gewissen Ironie unterstreicht sie die verblassende ehemals leuchtend goldene Schrift: «Proletarier aller Länder vereinigt euch!»

Unter der Rose prangt in großen Lettern: «Karl Marx» - das «a» und das «r» teils schon vom Wetter zersetzt. Das Grab des umstrittenen Philosophen, Ökonomen und Revolutionärs auf dem Londoner Friedhof «Highgate» scheint langsam zu zerfallen - und ist dennoch Pilgerstätte für Tausende. Am Freitag (14. März) vor 125 Jahren starb der berühmte Deutsche in London.

Seit 1956 ziert ein von der kommunistischen Partei Großbritanniens gestiftetes Marmor-Monument das Grab des Kapitalismus-Kritikers. Darauf ruht eine bullige bronzene Büste von Marx mit vollem Haar und Rauschebart. Aus drei Meter Höhe blickt er mit runzelnder Stirn auf die anderen Gräber herab. Alle paar Minuten kommen Besucher vorbei. «Nicht mehr wie früher in großen Delegationen, sondern in kleinen Gruppen», sagt Rowan Davies vom Verein der Freunde des Highgate Cemetery. «An Wochenenden sind es je nach Wetter bis zu 200.» Die meisten Besucher seien Studenten - viele aus China, Russland oder Deutschland. Einige brächten Blumen mit.

Am Grabmahl wiederholt sich wieder und wieder die gleiche Szene: Staunendes Betrachten, ein kurzes Tuscheln - dann werden die Digitalkameras gezückt. Erst das Monument allein, dann fotografieren sich die Gäste gegenseitig vor Marxens Kopf. Amy und Gabriel aus Oklahoma (USA) sind als Touristen in London. Sie seien große Fans von Marx, sagt der 22-jährige Gabriel und staunt: «Es ist viel größer, als ich dachte.» Kaum sind sie gegangen, stehen Wan und Kyuhwan aus Korea mit dem gleichen staunenden Gesichtsausdruck vor dem Monument. Die beiden 24-jährigen Studenten interessieren sich für «Kapitalismus», sagen sie. Kurzes Tuscheln, zwei Fotos, weiter.

Trotz Regen reißt der Besucherstrom nicht ab - Verehrer, Kritiker und Touristen wechseln sich ab. Der Verein «Friends of Highgate Cemetery», seit rund 30 Jahren Betreiber des Friedhofs, scheint bis heute ein gespaltenes Verhältnis zu seinem berühmtesten Toten zu haben: Kein Schild führt zu dem Grabmahl. Die reguläre Führung lässt es aus. Doch die Friedhofsfreunde haben in Marx, der einst den Reichtum kapitalistischer Gesellschaften als eine «ungeheure Warensammlung» beschrieb, eine profitable Ware entdeckt: Am Eingang werden Marx-Broschüren und Postkarten angeboten. Drei Pfund (rund vier Euro) kostet der Eintritt zu dem viktorianischen Gräberfeld, das vor Jahrzehnten als Kulisse für verschiedene Horror- und Vampir-Filme diente.

Am 14. März 1883 fand Friedrich Engels seinen Freund Karl Marx tot im Lehnstuhl sitzend in seinem Arbeitszimmer. 34 Jahre und damit mehr als die Hälfte seines Lebens hatte Marx mit seiner Familie im Londoner Exil gelebt - lange Zeit nur wenige Kilometer von seiner jetzigen Ruhestätte entfernt. Zur Beerdigung 1883 kamen gerade einmal elf Personen. Dennoch sagte Engels in der Grabrede: «Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk.»

Er sollte Recht behalten. Bereits am ersten Todestag marschierten mehr als 5 000 Demonstranten zum Highgate-Friedhof. Sie wurden von Hundertschaften der Polizei am Betreten gehindert. Ob am Freitag zum 125. Todestag wieder Tausende das Grab besuchen werden, bleibt abzuwarten. Polizisten werden sie jedenfalls nicht erwarten. Selbst die Friedhofsfreunde sind überrascht. Sie hatten das Jubiläum noch gar nicht ihrem Terminplan.