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"Vanity Fair"-Cover "Vanity Fair"-Cover: Caitlyn Jenner eine Ikone zeitgenössischer Gender-Politik?

Von Christian Bos 03.06.2015, 08:38
Auf dem Cover der Vanity Fair zeigt sich Ex-Zehnkämpfer Bruce zum ersten Mal als Caitlyn Jenner.
Auf dem Cover der Vanity Fair zeigt sich Ex-Zehnkämpfer Bruce zum ersten Mal als Caitlyn Jenner. Vanity Fair Lizenz

Eine Frau, nicht mehr jung, aber seltsam alterslos. Halb sitzt sie auf, halb lehnt sie an einem hölzernen Hocker. Sie trägt ein weißes Korsett, wahrscheinlich aus Seide. Den Kopf hat sie leicht zur Seite geneigt, die braunen Augen indes dem Betrachter zugewandt. Ihre langen braunen Haare fallen in Botticelli-artigen Schwüngen auf ihre Schultern.

Ihr Oberkörper scheint muskulös, ihre Brüste wirken fest, ihre Arme durchtrainiert. Allerdings hat sie Unterarme und Hände hinter ihrem Rücken verschränkt, ihre Beine übereinandergeschlagen.

Wenn ihre Pose eine Botschaft hat – und selbstredend hat sie das, dann sind es mehrere – widersprüchliche. Sie präsentiert sich offenherzig, herausfordernd. Gilt das auch für ihren Blick, oder sucht der eher Bestätigung? Was das Dekolleté freigibt, verbergen Arme und Oberschenkel.

Uneindeutige Signale sendet auch der Raum aus, in dem die Frau für die Kamera posiert. Die Wände schimmern golden, aber die Porträtierte hat sich mit dem Hocker ganz in die Ecke gedrängt, man kann die Kante oben gut erkennen. Das Klischee vom Goldenen Käfig drängt sich auf. Schaut man sich jedoch das kurze Video an, das vom Fotoshooting existiert, erkennt man, dass es sich bei dem Hintergrund nur um einen Wandschirm handelt, der von einem Assistenten gehalten wird.

Hinter der Kamera: die weltberühmte New Yorker Fotografin Annie Leibovitz, deren Porträts der Schönen, Prominenten und Mächtigen sich seit 40 Jahren immer wieder ins kollektive kulturelle Gedächtnis einbrennen: Der nackte John Lennon, der sich in Embryonalhaltung an die schwarz gekleidete Yoko Ono klammert. Bruce Springsteens jeansbekleideter Hintern, eine Baseballkappe lugt aus der Gesäßtasche, vor den roten Streifen der amerikanischen Flagge. Whoopie Goldberg, aus der Vogelperspektive aufgenommen, in einer mit Milch gefüllten Badewanne.

„Vanity Fair“ steht hinter dem Haarschopf der Porträtierten zu lesen. Jahrmarkt der Eitelkeiten. Immer noch ein guter Titel für ein Monatsmagazin, dass den Persönlichkeitskult der Glamourwelt im gleichen Maße vorantreibt wie es sie von den besten Autoren und Fotografen in erhellenden Features durchleuchten lässt.

Deren Namen kann man auf dem Cover der Juli-Ausgabe lesen (das Magazin erscheint am 8. Juni, die Vordatierung soll Hefte länger im Kioskregal halten): der Pulitzer-Preis-Gewinner Buzz Bissinger und eben Annie Leibovitz.

Die Porträtierte aber bleibt nachnamenlos. „Call me Caitlyn“ fordert sie den Leser selbst im groß gesetzten Zitat auf. Je nachdem, wie persönlich man sich angesprochen fühlt, kann man das mit „Nennt mich Caitlyn“ oder „Nenn mich Caitlyn“ übersetzen. Man darf es sogar als Anspielung auf einen der bekanntesten Romananfänge verstehen. „Call me Ismael“, fordert der Erzähler in Herman Melvilles „Moby Dick“, bevor er in See sticht, auf eine Fahrt mit ungewissem Ausgang. Gab man in Google die Worte „Call me“ ein, ergänzte die Autovervollständigung lange „Ishmael“, später auch „maybe“ (gemeint ist der Carly Rae Jepsen-Ohrwurm). Seit Dienstag aber lautet der erste Vorschlag „Caitlyn“, denn der Name ist die Nachricht.

Die Frau im Korsett kannte man bis zum Erscheinen des „Vanity Fair“-Titels nur unter den Namen Bruce. Als Bruce Jenner gewann sie bei den Olympischen Spielen in Montreal im Jahr 1976 den Zehnkampf, galt als das athletische Idealbild des amerikanischen Mannes. Spätestens seit sie regelmäßig in der Reality-Television-Show „Keeping Up with the Kardashians“ als Stiefvater der Schwestern Kim, Kourtney und Khloé Kardashian auftrat, stand sie im Fokus der Boulevardmedien.

Erst im April hatte die 65-Jährige, nach schier endlosen Medien-Spekulationen, in einem Fernsehinterview ihr Coming-out als Transgender-Mensch. Jenner saß ihrer Interviewerin Diane Sawyer mit langen Haaren gegenüber, aber noch in geschlechtsneutraler blauer Bluse. Erst auf dem „Vanity Fair“-Cover und in der dort beworbenen Feature-Geschichte aber präsentiert sie ihr neues Ich. Die Frau namens Caitlyn.

„Bruce musste immer lügen. Caitlyn hat keine Geheimnisse“, sagt Jenner über sich selbst in der dritten Person. Sie habe bereits in ihrer Glanzzeit als Olympionike BH und Feinstrumpfhosen unterm Anzug getragen. Annie Leibovitz Fotografie könnte nicht deutlicher zeigen, dass der Anzug nun im Schrank bleibt. Aber sie deutet auch das Zögern und die Ängste an, die mit einem solchen Schritt einhergehen.

Als Ikone zeitgenössischer Gender-Politik konkurriert das „Caitlyn“-Cover einzig mit Leibovitz’ Profil-Fotografie der schwangeren Demi Moore, ebenfalls für „Vanity Fair“ entstanden.