Unesco-Welttag der Poesie Unesco-Welttag der Poesie: Haben Sie schon ein Gedicht verschickt?

Hamburg/dpa. - Der Greifswalder Literaturwissenschaftler Michael Gratz meint,dass das Internet die Lyrik nicht grundsätzlich verändert habe. Ergibt gleichzeitig zu bedenken, dass es immer einen bedeutenden Strangin der lyrischen Tradition gegeben habe, der der Technik freundlichgesonnen war: «Novalis war Bergbauingenieur, Gottfried Benn sah denDichter als einen Techniker, der im Labor sitzt», sagt er.
Gratz, der die nur im Netz publizierte «Lyrikzeitung & PoetryNews» herausgibt, sieht durchaus Ähnlichkeiten zwischen der Nutzungdes Internets und der Annäherung an Gedichte: «Kreatives Lesen vonLyrik ist eine Art Surfen; es hat etwas sprunghaft Assoziatives,wobei der Zufall eine große Rolle spielt.» Dass es bald einendigitalen Poesie-Automaten geben könnte, der große Dichtunghervorbringt, hält der Literaturwissenschaftler aber fürunwahrscheinlich: «Bisher ist es schon schwierig genug mit demComputer grammatikalisch richtige Übersetzungen anzufertigen. Ganzschwierig wird es aber erst, wenn auch noch die poetische Grammatikhinzukommt.»
Ein bereits gelungenes und im Ausbau begriffenes Projekt ist die1999 von der Berliner Literaturwerkstatt ins Netz gestellte«lyrikline» (www.lyrikline.org): Auf diesen Seiten können die Versedeutschsprachiger Dichter von Gottfried Benn über Ingeborg Bachmannbis zu Durs Grünbein nicht nur nachgelesen, sondern auch angehörtwerden - sofern eine Originalaufnahme des Dichters vorliegt und derNutzer die nötige Technik besitzt.
Um den deutschsprachigen Kern der «lyrikline» wächst allmählicheine Plattform für internationale Gedichte: Der karibischeNobelpreisträger Derek Walcott liest auf Englisch, Kaiyu Xiao aufChinesisch. Auch kleine Sprachen wie das Rätoromanische, Isländischeoder Litauische sind zu hören. Die Aufnahmen stammen vom «Weltklang»-Poesiefestival, das alljährlich von der Berliner Literaturwerkstattveranstaltet wird, oder von Partnerorganisationen wie dem Goethe-Institut. Selbstverständlich gibt es zu den Gedichten Übersetzungen.Insgesamt sind bisher 34 Sprachen vertreten. Auf diese Weise entstehtnach und nach ein audiovisueller Weltatlas der modernen Poesie.
Für Thomas Wohlfahrt, Leiter der Berliner Literaturwerkstatt undInitiator der «lyrikline», ist das Internet ein ideales Medium: «DerDichtung ist in den letzten Jahrhunderten die Stimme verlorengegangen.» Mit dem Internet, aber auch mit CDs, könne, so sagtWohlfahrt, dieser Verlust wieder rückgängig gemacht werden. Das habeauch den Effekt, dass Versdichtung wieder verstärkt wahrgenommenwerde. «Es hat sich gezeigt, dass immer dann, wenn wie bei der"lyrikline" die Stimme dazu kommt, die Rezeptionsschwierigkeiten wegsind», meint er.
Der Lyriker und Verleger Anton G. Leitner aus München wiederumsieht das Internet vor allem als gute Möglichkeit, sich über Poesiezu informieren: «Wenn ein junger Mensch bei einem Poetry Slam war undzu Hause auf die Idee kommt, ein Buch von einem Dichter, den er dorterlebt hat, kaufen zu wollen, dann wird er zunächst im Internetsuchen.» Das sei, so meint Leitner, auch deshalb geboten, weil dieLyrikecken in den Buchläden immer kleiner würden. Dennoch hat derHerausgeber der Zeitschrift «Das Gedicht» gewisse Vorbehalte, wenn erans «Netz» denkt: «Der Bildschirm transportiert eine gewisse Kälte.Papier ist die sinnlichere Form für die Poesie», sagt Leitner.«Außerdem kann man ein Gedichtband in die Tasche stecken und so dieVerse in freier Natur lesen.»dpa os yyzz pk/sm 200130 Mrz 05
