Die wilden Zwanziger

Berlin - Wie war das Leben eigentlich in früheren Zeiten? Da es immer weniger noch lebende Zeitzeugen gibt, ist man zur Beantwortung und Illustrierung dieser Frage immer mehr auf Schriften und Filme aus jener Zeit angewiesen.
Die Arte-Doku „Die wilden Zwanziger” trägt - nach dem ersten Film über Berlin in der vergangenen Woche - nun viele Facetten über die französische Hauptstadt Paris zusammen und ist an diesem Mittwoch (23.45 Uhr) zu sehen. Gleich im Anschluss (0.40 Uhr) läuft dann noch ein Porträt über die Stadt Wien.
Paris war wohl die Partystadt schlechthin in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts. Man wollte dem Elend allenthalben etwas entgegensetzen - und das mit möglichst viel Eleganz. Stars wie die Sängerin Mistinguett waren in diesen angeblich ziemlich „verrückten Jahren” („les années folles”) angesagt.
Heute tritt die Sängerin und Schauspielerin Carmen Maria Vega in genau dem Look dieser Sängerin auf und sagt im Film: „Sie war das erste Idol. Der Erste Weltkrieg sollte vergessen werden, und man konnte nicht ahnen, dass es noch schlimmer werden sollte. Man wollte die Feste einfach feiern, wie sie fallen.” Man sollte den Alltag vergessen, der aus dem täglichen Kampf ums Überleben und auch aus vielen Streiks bestand.
Der Pianist Alexandre Tharaud hat sich schon als junger Mann für die 20er Jahre begeistert und spielte für ein eigenes Musikalbum den Sound jener Jahre nach. Er sagt im Film: „Es gab damals eine echte Revolution. Paris musste wieder aufgebaut werden, nicht nur die Architektur. Was passierte in der Welt der Kultur? Da ist unglaublich viel Neues entstanden.” Das galt in der Tat für die Musik, den Tanz, die Show und die Architektur gleichermaßen. Die Wurzeln für den Surrealismus und den Dadaismus wurden in jener Zeit gelegt.
Zu Wort kommen im Film auch Literaturwissenschaftler und Historiker, die erklären, welche Folgen der Erste Weltkrieg für Paris hatte (der Rassismus in der Gesellschaft ist ein Thema) und warum vor allem die US-Amerikaner so gern nach Paris kamen - weil man hier ein intensives und kreatives Leben zelebrieren konnte und natürlich auch, weil es hier keine Prohibition gab.
Der Fotograf Man Ray (1890-1976) lebte damals im Viertel Montparnasse und eröffnete dort 1923 sein erstes Atelier. Sein Motto war: Alles auf den Kopf stellen. Natürlich fallen die Namen der Schriftstellerin Gertrude Stein, des Schauspielers Charlie Chaplin und des Autors Jean Cocteau. Der Schriftsteller Louis Aragon war ein begnadeter Nachtschwärmer in Cafés, Bars und Bordellen - und er war der Mitbegründer des Surrealismus. Seine Erlebnisse schrieb er auch in seinem Roman „Der Pariser Bauer” (1926) nieder.
Die Filmautorin Stefanie Appel liefert ein buntes Kaleidoskop einer faszinierenden Stadt im Umbruch, untermalt mit Ausschnitten aus Filmen von Luis Buñuel und Woody Allen und dazu passender stimmungsvoller (Jazz-)Musik. Die 20er Jahre in der energiegeladenen und espritvollen Stadt Paris waren sicher eine Abrechnung mit der Bourgeoisie, doch sie waren vor allem eine abenteuerliche Zeit der Tabubrüche, der Improvisation und der Selbstinszenierung, aber auch der nachhaltigen Stilbildung.
Ihr Film ist ein unterhaltsamer, stellenweise vielleicht etwas zu verkopfter, aber insgesamt doch interessanter Streifzug durch das „Swinging Paris”. Aussagen von Menschen, die vielleicht schon über mehrere Generationen hinweg in Paris leben, fehlen indes.
Der US-Schriftsteller Ernest Hemingway lebte damals ebenfalls in der französischen Hauptstadt und schrieb dort das lebensbejahende Manifest „Paris - Ein Fest fürs Leben” und seinen großen literarischen Erfolg „Fiesta”. Sein Satz „Wenn Du das Glück hattest, als junger Mensch in Paris zu sein, dann trägst Du die Stadt für den Rest deines Lebens in Dir”, mag selbst heute, wo die Zeiten längst nicht mehr so golden sind, noch gelten. (dpa)