Sonderermittler der Stasi DDR bei Arte: Die Stasi und ihre Sonderermittler bei brisanten Verbrechen
Leipzig - Als er die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung auf den Tisch bekommt, greift der Oberarzt alarmiert zum Telefon. Leipzig, April 1986: Seit dem Herbst des Vorjahres sind auf der Säuglingsstation der Frauenklinik vier Frühchen gestorben, an rätselhaften Herzrhythmusstörungen. Nun steht fest: Ihnen ist Digitoxin gespritzt worden.
Das Mittel soll das Herz stärken, doch überdosiert kann es tödlich wirken. Der Oberarzt ist nervös: Er befürchtet einen politischen Skandal, wenn bekannt wird, was hinter den Todesfällen steckt. Schon wabern Gerüchte durch die Stadt: In der Frauenklinik sterben Säuglinge! Was tun?
Der Mediziner verständigt nicht die Kripo, in seiner Not ruft er Manfred Hummitzsch an, den Chef der Stasi im Bezirk Leipzig. Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, ob er sich über den Ratschlag Hummitzschs gewundert hat, aber er befolgt ihn: Er solle Anzeige erstatten, rät ihm der Geheimdienst-Chef. Aber nicht bei der Kripo. Sondern bei der Stasi.
Stasi in der DDR: Sondereinheiten sind mit modernster West-Technik ausgerüstet
So werden die toten Leipziger Säuglinge zu einem Fall für die sogenannte Spezialkommission der Staatssicherheit. Das ist eine Art Kripo innerhalb des DDR-Geheimdienstes.
Eine Sondereinheit, ausgerüstet mit modernster West-Technik. Eine Polizei, die nachrichtendienstliche Mittel einsetzt, Telefon-Überwachung, Wanzen in Wohnungen, ohne sich um Recht und Gesetz zu scheren. Über ihre Arbeit ist bisher wenig bekannt.
Kapitalverbrechen wie Sexual- oder Raubmorde durfte es nach Lesart der DDR-Oberen nicht geben
Die Spezialkommissionen, bei jeder der 15 Stasi-Bezirksverwaltungen eine, sollen besonders schwere Fälle aufklären. Das können als politisch brisant eingestufte Verbrechen sein. Aber auch Fälle, in denen die Kripo nicht vorankommt mit ihren Ermittlungen.
Wenn die Unruhe in der Bevölkerung groß ist, weil etwa ein Serienmörder einfach nicht zu fassen ist, dann setzen die Stasi-Funktionäre die Spezial-Ermittler an. Sie sollen wieder für Ruhe sorgen, indem sie die Fälle lösen und deren Hintergründe soweit wie möglich zu vertuschen versuchen. Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Denn Kapitalverbrechen wie Sexual- oder Raubmorde dürfte es nach Lesart der DDR-Oberen in einer „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“, so das Selbstverständnis, eigentlich gar nicht geben.
Stasi-Ermittler schalten sich auch in die Aufklärung des Kreuzworträtsel-Mordes ein
Auch in einem der spektakulärsten Kriminalfälle der DDR, dem Kreuzworträtsel-Mord, schaltet die Spezialkommission der Stasi sich ein: Halle-Neustadt, Januar 1981. Der siebenjährige Lars kommt nicht aus dem Kino nach Hause. Seine Mutter alarmiert die Polizei. Nach tagelanger Großfahndung steht fest: Der Junge ist tot. Ein Streckenläufer der Reichsbahn findet seine Leiche in einem Koffer an der Bahnstrecke Halle-Leipzig zwischen Schkeuditz und Lützschena.
Erst ausgefüllte Kreuzworträtsel in alten Zeitungen, die in dem Koffer lagen, bringen die Ermittler auf die Spur des Täters. Sie nehmen zehntausende Schriftproben, an den Haustüren in Halle-Neustadt, aus Akten und amtlichen Papieren, die sie mit der Schrift in den Rätseln vergleichen. Schließlich landen sie einen Treffer.
„Hinter die Schriftproben hat sich die Spezialkommission geklemmt“, sagt Gabi Schlag. Die Frau mit den langen braunen Haaren ist Regisseurin in Berlin. Sie hat mehrere Kriminalfälle recherchiert, in denen die Spezialkommissionen der Stasi ermittelten, und daraus einen Dokumentarfilm gemacht. Er läuft an diesem Dienstag auf Arte.
Spezialkommissionen der DDR noch unerforscht
Schlag hat Stasi-Akten ausgewertet, Lehrfilme und Fotos des Geheimdienstes und der Polizei gesichtet, mit Zeitzeugen gesprochen. „Ohne sie hätten wir den Film nicht machen können“, sagt sie, „die Spezialkommissionen sind ein noch sehr wenig erforschtes Gebiet.“ Sie ist bei Recherchen zu einem anderem Filmprojekt in Berlin darauf gestoßen.
Der Kreuzworträtsel-Mord taucht in Schlags Film nicht auf. „Wir haben uns auf Fälle konzentriert, die noch nicht so bekannt sind“, sagt sie. Zum Beispiel Neubrandenburg.
Juli 1983 in der DDR: In Neubrandenburg beginnt eine rätselhafte Mordserie
Juli 1983, nahe der Stadt im Norden der DDR wird ein neunjähriger Junge tot in einem Gebüsch gefunden, Würgemale am Hals. Wenig später wird in einem Gestrüpp am Ufer des Tollensesees nahe der Stadt ein weiteres Opfer entdeckt, ein junger Mann. Die Kripo ermittelt fieberhaft, schließlich glaubt sie sich am Ziel: Ein Saufkumpan des älteren Opfers soll der Mörder sein. Lebenslänglich, lautet das Urteil.
Was die Ermittler nicht ahnen: Sie haben den Falschen erwischt. Der wahre Täter läuft weiter frei herum. Er fühlt sich jetzt sicher. Und schlägt wieder zu. Unvorstellbar grausam. Nahe Oranienburg, nördlich von Berlin, lässt er zwei Brüder, neun und elf Jahre alt, an Bäume gefesselt sterben. Zuvor hat er sie mit Messern traktiert und gewürgt.
Der Mörder macht 1984 weiter: Die Ermittler haben den Falschen erwischt
Die Polizei sucht nach einem Sexualtäter. Verbindungen zu den Morden in Neubrandenburg zieht sie nicht. Dafür ist ja jemand verurteilt worden. Deshalb schaltet sich auch die Stasi nicht ein. Noch nicht. Und der Täter macht weiter. Wieder Neubrandenburg, Februar 1984: Ein Sechsjähriger wird erwürgt im Flur eines Plattenbaus gefunden. Er muss seinem Mörder direkt in die Arme gelaufen sein. Er war mit seinem Vater einkaufen und ging voraus, um zu Hause fernzuschauen.
Hohen Neuendorf bei Oranienburg, Juli 1984: Diesmal kommt den Ermittlern der Zufall zu Hilfe. Zwei Jungen, allein im Wald mit ihren Fahrrädern unterwegs. Sie sollen die nächsten Opfer sein. Der Täter lauert ihnen auf, doch sie können weglaufen und alarmieren ihre Eltern. Die können den Mann noch im Wald überwältigen: Martin S., 24 Jahre alt.
Bei der Kripo in Oranienburg gesteht S.: Fünf Morde. Sieben Mordversuche. 26 Vorbereitungen für weitere Morde. Die Kripo-Ermittler haben ihren Mann. Doch nun kommt die Stasi, und sie sind draußen.
Auch der Serienmörder wird ein Fall für die Spezialkommission
Dass die Mordserie nun, nachdem sie aufgeklärt ist, doch noch ein Fall für die Spezialkommission wird, hat mit der Vita von S. zu tun: Er ist Leutnant bei der Nationalen Volksarmee. Damit ist der Fall nicht weniger politisch brisant als ein rätselhafter Mord drei Jahre zuvor in Berlin Prenzlauer Berg. Ein Polizist liegt blutüberströmt in einem Hinterhof, seine Dienstwaffe ist gestohlen. In diesem Fall ermitteln Kripo und Stasi gemeinsam. Doch die Stasi ist immer vorne dran. Das „Informationspotential“ sei bei der Spezialkommission „ein bisschen größer“ gewesen als bei der Polizei, so drückt es im Film von Gabi Schlag Rolf-Dieter Weinhold aus, ein ehemaliger Stasi-Ermittler. Soll heißen: Die Staatssicherheit konnte mit ihren nachrichtendienstlichen Mitteln noch Informationen abschöpfen, wenn die Kripo längst am Ende war.
Das rechtsstaatliche Gebot der Trennung von Polizei und Geheimdienst ist mit dem Einsatz der Spezialkommissionen de facto aufgehoben. Dabei begreift sich auch die DDR als Rechtsstaat.
Nach vier toten Säuglingen in der Leipziger Frauenklinik wird das Personal zum Schweigen verdonnert
Bei den Untersuchungen zu den toten Säuglingen 1986 in der Leipziger Frauenklinik kommt die Kriminalpolizei erst gar nicht zum Zug. Die Stasi ermittelt von Anfang an allein. Todesfälle auf einer Geburtsstation gelten als politisch brisant. Das Klinikpersonal wird zum Schweigen verdonnert. Eine Verdächtige ist schnell gefunden – eine Krankenschwester, 20 Jahre alt, die Zugang hat zu dem Medikament Digitoxin, das den Frühchen in tödlicher Dosis gespritzt worden war. Die Stasi wirft ihr eine „systemfeindliche Tat“ und einen „gesellschaftsgefährdenden Akt“ vor. Schließlich gesteht die Frau. Ein Gutachter bescheinigt ihr eine psychische Störung. Inwieweit dieses Gutachten objektiv war oder gesteuert, lässt sich nicht mehr nachvollziehen.
Der Leipziger Fall ist ein Politikum, und der jungen Krankenschwester wird ein politischer Prozess gemacht. Nachdem sie mehr als ein Jahr lang in Untersuchungshaft sitzt, legen Stasi und Justiz im August 1987 fest: Die Gerichtsverhandlung ist nicht öffentlich, die Eltern der Angeklagten werden weder über den Termin informiert noch nach dem Ende des Prozesses. All das verstößt gegen geltendes Recht der DDR. Erst mehr als 20 Jahre später, 2009, wird die Frau aus der Haft entlassen, ein Jahr später in ihrer Wohnung tot aufgefunden.
Erst nach der Wende können sich die Angehörigen auf die Suche nach der Wahrheit machen
Und die Eltern der toten Kinder, in Leipzig, in Neubrandenburg, in Oranienburg? Ihnen bleibt neben dem Schmerz nur jahrelange quälende Ungewissheit. Was ist wirklich passiert? Wie sind ihre Kinder gestorben? Darüber schweigen die Behörden. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Aus den Stasi-Akten zu den Leipziger Todesfällen geht lapidar hervor, den Eltern sei die Todesursache nicht mitgeteilt worden. Erst nach dem Mauerfall können sie sich auf die mühsame Suche nach der Wahrheit machen.
„Die Spezialkommission“, 31. Januar, 21.45 Uhr, Arte