Tschingis Aitmatow Tschingis Aitmatow: Rast auf dem Jahrhundertweg

Nürnberg/MZ. - 30 Jahre alt warTschingis Aitmatow, als er 1958 dieses Prosastückals Abschlussarbeit seiner Ausbildung am "Gorki"-Literaturinstitutin Moskau veröffentlichte. Ein Debüt wie einPaukenschlag, dabei von unendlicher Zärtlichkeitdurchdrungen. Weltliteratur auf den erstenBlick, die in der DDR als Schullektüre diente.
Ort der Handlung: ein kirgisischer Kolchoswährend des Zweiten Weltkrieges. Das Mädchen,das der Novelle seinen Titel lieh: eine verheirateteKirgisin, die sich - während die Männer ander Front kämpfen - in einen verwundeten Soldatenverliebt. Als Tochter eines Pferdehirten istsie in großer Unabhängigkeit aufgewachsen,nicht gewillt, die sittlichen Gebote überdie Forderungen ihrer Zuneigung zu stellen.Nicht allein Djamila brach solcherart mitder gängigen Moral, sondern auch deren Erzähler:Über Nacht galt der gelernte Viehzüchter Aitmatowals der berühmteste Schriftsteller der Sowjetunion.Und "Djamila" zeigte seinen Autor bereitsganz, dessen große Themen: die Heimat Kirgisistan,das Gegeneinander einer landschaftlich geprägten,traditionellen und einer an den Erfordernissender Industrie ausgerichteten Lebensweise undWeltanschauung. Aitmatow, der äußerlich keinRevoluzzer war, schaffte es, in seinen Büchernsteile philosophische und politische Spannungsbögenzu schlagen.
Dabei war die Biografie des Schriftstellersselbst nicht frei von romanhaften Zügen: 1928geboren im kirgisischen Scheker, folgte derSohn im Alter von sieben Jahren dem Vaternach Moskau, wo letzterer als Propagandistder neuen Ordnung parteipolitisch geschultwerden sollte. 1937 schickte der Senior seineFamilie zurück in die mittelasiatische Provinz,kurz bevor er verhaftet und im Zuge der StalinschenPartei-"Säuberungen" ermordet wurde. Fortanhatten die Aitmatows mit dem Stigma der politischVerfemten zu leben. Um so größer war die Überraschung,dass der erst 14-jährige Tschingis bei Kriegsausbruchzum Sekretär des Dorfsowjets berufen wurde:Er war der einzige, der lesen und schreibenkonnte. So lernte er die Welt kennen, überdie er nach dem Studium der Tiermedizin undeinem Einsatz als Journalist von 1956 an inMoskau schreiben sollte.
Große Werke darunter, Bücher wie "Abschiedvon Gülsary" (1966), die einfühlsame Geschichtevon einem Hirten und seinem Pferd. "Der weißeDampfer" (1970), der das Schicksal eines elternlosenJungen erzählt. "Der Richtplatz" (1985), alsPerestroika-Roman apostrophiert und gefeiert,der den Konflikt zwischen einer materialistischeingestellten Sowjetunion und den TraditionenZentralasiens schildert. Der große Weltanschauungsroman"Der Tag zieht den Jahrhundertweg" (1980),der die Legende vom "Mankurt" zitiert: Sonannten die Völker der Steppe jene Kriegsgefangenen,denen man auf den rasierten Schädel einenHelm aus blutig frischer Kamelhaut klebte.Die Haut schrumpfte, und unter schrecklichenQualen wurde der "Mankurt" zum willenlosenund gedächtnislosen Sklaven.
Schließlich "Der Schneeleopard" (2007), Aitmatowsim Unions-Verlag veröffentlichtes Alterswerk:die Geschichte des alten Leoparden Dschaa-Bars,der sein ruhiges Lebensende erwartet, abervon arabischen Prinzen mit Automatikwaffengejagt wird. So schrieb mit der politischenWelt Kirgistans, der Aitmatow zuletzt alsUnesco-Botschafter in Paris und Brüssel diente,stets die mythische Welt mit. Von seinen Lesernwurde er als ein "Karawenenführer des Gewissens"verehrt, das darin bestand, auf einem älterenWissen zu beharren.
Bis zum Schluss ist Aitmatow als ein Autorvon Weltrang verehrt worden: im Osten undimmer auch im Westen. Dort, fernab vom heimatlichenTalas-Tal, ist er gestern Nachmittag im KlinikumNürnberg 79-jährig an den Folgen einer Lungenentzündunggestorben.