Tod einer Lyrikerin Tod einer Lyrikerin : Nebel zieht auf - ein Nachruf auf Sarah Kirsch

Halle/MZ - „Ich bin 1935 im Pfarrhaus zu Limlingerode geboren worden, in einem südländisch anmutenden Fachwerkbau auf einer Anhöhe am Rand des Waldes. Es handelte sich um den letzten Amtssitz meines Großvaters vor dem Ruhestand, und es wohnten auch meine Eltern in diesem Haus.“
So schnörkellos eröffnet Sarah Kirsch ihre Halberstädter Kindheitserinnerungen „Kuckuckslichtnelken“. Ein Büchlein, das in die sozialen und landschaftlichen Gründe einer schreibenden - und immer auch malenden! - Künstlerin führt, die seit den 70er Jahren nicht nur zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen gehört, sondern der es als Dichterin gelang, Weltliteratur zu schreiben. Gedichte, die von jedermann ohne Kommentarvorlauf zu verstehen sind. Eine Lyrik, die nobelpreiswürdig war wie wenig anderes, das in Ostdeutschland seinen Ausgang nahm.
In Limlingerode, einem Ostharz-Flecken, im thüringisch-niedersächsischen Grenzstreifen gelegen. Dort steht bis heute das Geburtshaus der Autorin, das seit 2002 als „Dichterstätte Sarah Kirsch“ betrieben wird - als ein Ort der geselligen Literaturpflege. Und das auf eine so ungezwungene Weise, dass sogar die notorisch öffentlichkeits-scheue Sarah Kirsch einige Male den Weg von ihrem norddeutschen Wohnsitz Tielenhemme aus nach Limlingerode fand.
In das Nest, von dem aus die Familie 1938 nach Halberstadt zog, weil Kirschs Vater auf dem Flugplatz Arbeit als Mechaniker gefunden hatte. In der Vor-Harz-Stadt erfährt das Mädchen, das noch Ingrid Bernstein hieß, die autoritäre Gesellschaft im NS-Staat und in der frühen DDR. Die Volksschule? „Das Beste ist der Schulweg gewesen“, schreibt Sarah Kirsch. Vierzig Kinder in einer Klasse, der Lehrer schlägt mit dem Rohrstock auf die Köpfe der Schüler. „Ich war schüchtern und fand alles grauenhaft.“ KZ-Häftlinge, die in der Stadt zu sehen waren, wurden ihrer gestreiften Kleidung nach „Zebras“ genannt. Immerhin, teilt Sarah Kirsch mit, habe ihre Familie nicht die Meinung geteilt, „dass es sich bei den Gefangenen um Verbrecher handelte“. 1945 dann der Bombenangriff auf Halberstadt, den das Kind gemeinsam mit seiner Mutter auf der Chaussee nach Quenstedt erlebt. Ein „weltanschaulicher Schock“: das Wissen, „dass ich zufälligerweise am Leben geblieben war“.
Das ist die dunkle Spur, aus der heraus diese Dichterin ihren Weg nimmt, neben der aber immer eine helle Spur einherläuft: die der Freiheit, der Freude und des Überschwangs, der mutwillig fröhlichen Opposition gegen alle „herrschenden“ Verhältnisse. Denn die Neulehrer „schlichen durchs Dasein“, die alten Pauker hatten keine Autorität mehr: „Schon weil wir wussten, welche Lehrer kurz zuvor Nazis waren“. Unabhängigkeit also, Entschiedenheit und Eigensinn, das sind Wesensmerkmale der Dichterin und Zeitgenossin Sarah Kirsch, die von 1954 bis 1958 Biologie in Halle studiert, wo sie von 1965 an als freie Schriftstellerin lebt. 1960 heiratet sie den Schriftsteller Rainer Kirsch, mit dem sie gemeinsam in der halleschen Rathausstraße lebt. „Dort hatten wir eine halbe großbürgerliche Wohnung, betretbar durch den Dienstbotenaufgang mit Ausblick auf eine Galerie verschiedener Höfe, die Rückfront von Grüns Weinstuben.“ Sarah Kirsch schreibt von ihrem Schwiegervater, der zu Hans Grimms Propagandabuch „Volk ohne Raum“ promoviert wurde und nun an der Universität „SED-Mitglied war und zwar einhundertfünfzigprozentig“. Und „ohne Mitleid für seinen Sohn, der im Chlorbetrieb in Buna mit Arbeit bestraft wurde. Im Arbeiter- und Bauernstaat ohne Kartoffelsalat.“ Aus Protest gegen den Antisemitismus der Väter wird Ingrid im Jahr 1960 den Namen Sarah wählen.
Die Ehe hält bis 1968. Mit deren Ende verlässt Sarah Kirsch Halle und siedelt über nach Ostberlin. Der Vater ihres 1969 geborenen Sohnes ist der Dichter Karl Mickel. Die wunderbaren sind keine leichten Jahre: „Wir mussten uns zusammenrotten gegen die anerkannten Parteidichter, die heute niemand mehr kennt.“
Ende der 60er Jahre nimmt die literarische Karriere von Sarah Kirsch ihren Lauf, die 1977 - nach dem Ausschluss aus SED und Schriftstellerverband in Folge ihres Protestes gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann - nach Westberlin ausreist und 1983 nach Schleswig-Holstein übersiedelt. Die großen Gedichtbände erscheinen von 1967 an: „Landaufenthalt“, „Zaubersprüche“, „Rückenwind“, „Erdreich“, „Erlkönigs Tochter“, die Prosabände „Irrstern“ und „Allerlei-Rauh“. Zuletzt quicklebendige, von ihr illustrierte Tagebücher.
Die Lyrik der Sarah Kirsch: Das ist Verskunst aus dem Gestus der archaischen Poesie, aus Märchen und Zauberspruch. „Anziehung“: „Nebel zieht auf, das Wetter schlägt um. Der Mond/ versammelt Wolken im Kreis. Das Eis auf dem See/ hat Risse und reibt sich. Komm über den See.“ Aber im Zauberischen erschöpft sich diese Dichtung nicht, die lakonisch und umgangssprachlich alles Parfümierte und Sentimentale unterläuft. Die mit entschiedener Subjektivität Gesellschaft, Geschichte und Landschaft ins Bild setzt. Unmittelbar im Erleben, eigenständig im Urteil.
„Epitaph“ heißt das letzte Gedicht ihres jüngsten Gedichtbandes „Schwanenliebe“: „Ging in Güllewiesen als sei es/ Das Paradies beinahe verloren im/ Märzen der Bauer hatte im/ Herbst sich erhängt.“ Das ist keine Kuschelkunst. Im Gegenteil. Nie ist die Kirsch bieder, nie harmlos, nie herzig, wenn sie von den Herzensdingen redet. Eindrücklich in ihrem Zyklus „Wiepersdorf“ (1976), einer Anrufung der romantischen Dichterin Bettina von Arnim: „Immer/ Sind wir allein wenn wir den Königen schreiben/ Denen des Herzens und jenen/ Des Staates.“
Allein, aber nicht einsam: Das war Sarah Kirsch wohl in den vergangenen Jahren gewesen. Eine Dichterin, die nie Mainstream oder Meute war. „Sich durchgehauen zu haben, ohne in den Dreck zu geraten. Das ging“, sagte sie 2002 über die DDR. Alles Ostalgische, vor allem auch im Hochliterarischen, registrierte sie mit Verachtung. Noch manches Mal war sie nach Halle gereist, aber ein öffentlicher Auftritt kam für sie nicht in Frage. Sie wollte kein Wiedersehen.
Dabei wird es bleiben. Wie die Deutsche Verlags-Anstalt in München am Mittwoch mitteilte, ist Sarah Kirsch bereits am 5. Mai nach kurzer, schwerer Krankheit im holsteinischen Heide gestorben. Sie wurde 78 Jahre alt. Ein Tod auf Distanz, der die Fliehkräfte der Gegenwart zu verstärken scheint.