Tino Eisbrenner auf Tournee Tino Eisbrenner auf Tournee: Der Weltversteher in Dessau
Dessau-Roßlau - Was haben Goethe, Neruda, Baudelaire, Tucholsky, Schiller, Puschkin, Villon, Brecht und Tino Eisbrenner gemein? Für Letzteren, Jahrgang 1962, ist diese Frage der Auftakt für Grundsätzliches. Eisbrenner erzählt: „Das sind alles Dichter, die meine heutigen Sichtweisen geprägt haben. Mit ihrer poetischen Sprache spiegeln sie die Verhältnisse ihrer Zeit.“
Bei Eisbrenner erzeugte diese Reibung immer Ähnliches: Reisen, Entdeckungsfahrten, Herzensöffnungen. Alles meistens „Barfuß in Kakteen“, so heißt sein aktuelles feingeistig-intensives Album, auf dem chilenische Musiker und lateinamerikanische Spielarten die Eisbrennerschen Texte begleiten. Wunderbare Poesie gibt es da: „Das Licht deiner Worte tut weh / Es strahlt nicht auf das, was ich seh.“ Bei Eisbrenner zeigt der Kompass ins Offene. Wird die Erde zu schwer, erweitert er seinen Horizont. So war es, so bleibt es.
Eisbrenner in der DDR, in Moskau und Mexiko
Mit seiner Band „Jessica“ tourte er in den 80er Jahren durch die Ostblockstaaten, als Solist folgten Reisen nach Nicaragua, Finnland, Frankreich, Russland und in die USA. Zwei Jahre lang lebte er in den 90er Jahren bei mexikanischen Indianern. Allein 2016 gastierte er in Moskau, Weißrussland, Polen, Tschechien und Österreich. Spricht solch ein belesener Weltenbummler von „unsichtbaren Linien“, die er während der Lesung „Wahlverwandtschaften“ zwischen besagten Dichtern herausstellen will, weiß man, dass ein besonderes ästhetisches Erlebnis bevorsteht. „Meist sind die Leute verblüfft und dankbar, wie ich sie auf diese unerklärbare Reise durch die Jahrhunderte mitnehme. Neil Young würde sagen: It’s all one song“, sagt Eisbrenner.
„Kopfsprung in die Achtziger"
Auch den innigen Wunsch zahlreicher Fans, sich noch einmal im „Altmaterial“ zu tummeln, kommt er dieses und nächstes Jahr nach. Der 30. Geburtstag des ersten und einzigen „Jessica“-Albums lässt ihn auf eine „Spieler 30 – Kopfsprung in die Achtziger“-Tour gehen. Dabei singt Eisbrenner neben eigenen Hits wie „Ich beobachte Dich“ auch Songs von Sting, Bowie oder Prince. Rückblicke, die Erkenntnisse und Haltungen beheimaten: „In meiner Kindheit, von 1970 bis 1973, habe ich in Bulgarien gelebt, meine Eltern haben dort gearbeitet. Das war eine prägende Erfahrung mit fremder Kultur. Und das in einem Alter, wo man Lesen lernt. Ich fing also im Ausland an, ein bewusster Mensch zu werden.
Russisch-Deutsche Rock- und Bardensongs
Der Berliner mit den sorbisch-russischen Schwiegereltern wohnt seit 15 Jahren in Mecklenburg-Vorpommern. Für schwarz-weiße Frontrhetorik ist er nicht zu haben, für humanistische Werte schon. Sein aktuelles Herzensprojekt heißt „Musik statt Krieg“. Eisbrenner hat russische Rock- und Bardensongs ins Deutsche übersetzt, sie für die Bühne arrangiert. Nächstes Jahr soll das Ganze als zweisprachiges Album vorliegen. Erklärungen des Künstlers: „Mich stören diese holzschnittartigen Kalter-Krieg-Diskussionen. Warum soll ich Russland als Feind betrachten? Ich muss da etwas dagegen stellen.“ Jedes Jahr gibt es auf dem heimischen „Vier Winde Hof“ das „Musik statt Krieg“-Festival. Eisbrenner, zur Zeit gibt er an der Grundschule der „Windmühlenstadt“ Woldegk auch noch Musikunterricht, versteht sich als Brückenbauer. Ein Selbstverständnis, das er auch gegen vorgetragene Kritik verteidigt: „Die größte Angst haben wir vor Fremdem. Wir haben seit 1990 beim Erlernen des American Way of Life die Nähe zu Russland vergessen. Warum beschränkt sich unser Russland-Bild oftmals nur auf Putin?“ Auf so einem Nährboden lassen sich leicht Feindbilder inszenieren. „Wir Künstler können ohne erhobenen Zeigefinger und ohne Ideologie gesellschaftliche Themen spielerisch abbilden. Das macht unseren Wert aus“, so Eisbrenner. So wird das für März 2017 geplante, zweite Album von „Hausboot“ deutlich Stellung beziehen.
Am 22. Oktober im Schwabehaus Dessau
Hierbei gibt es eine Zusammenarbeit mit Heiner Lürig, der Hits für Heinz Rudolf Kunze komponierte. Eisbrenner wird weiterhin Traditionslinien und humanistische Werte verteidigen. Abschließende Worte: „Songpoeten sind wandelnde Reflektoren ihrer Zeit, sie steigen hinab in die Tiefe der Seelen und fördern etwas zutage wie Schmerz, Angst, Zorn. Etwas wie Verstand, Poesie und Liebe. Etwas, das wir Hoffnung nennen.“
Tino Eisbrenners Lesung „Wahlverwandtschaften“ findet am 22. Oktober um 20 Uhr im Schwabehaus in Dessau statt, Johannisstraße 18 (mz)