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Thomas Kretschmann Thomas Kretschmann: Langer Weg bis zum Ende der Klischees

Von Andreas Hillger 23.10.2002, 15:35

Berlin/MZ. - Der erste Blick im Film fällt auf blanke Stiefelspitzen, erfasst eine makellose Uniform und gleitet vom Koppel zum Kragenspiegel, bis er schließlich auf einer seltsam leeren Miene unter scharfem Scheitel ruht. Dies ist das Bild, das der jüdische Pianist Wladyslaw Szpilman lange gefürchtet hat - und das ihn nun, da es ihn ereilt, seltsam ruhig werden lässt.

Der erste Blick in der Wirklichkeit trifft ein offenes, fast jungenhaft verschmitztes Gesicht unter Struwwelhaar. Im blauen Sweatshirt und den Jeans wirkt er kleiner als erwartet, aber nicht minder kräftig. Und - trotz des Stresses vor der Premiere - erstaunlich entspannt.

Thomas Kretschmann hat guten Grund zu solcher Zufriedenheit. In Roman Polanskis Film "Der Pianist", der am Donnerstag in die deutschen Kinos kommt, spielt er den zwar relativ kurzen, aber dennoch gewichtigen Part des Wehrmachts-Hauptmanns Wilm Hosenfeld. Und obwohl er damit in einem Rollenfach bleibt, in dem er im Laufe seiner Karriere immer wieder besetzt wurde, bricht Kretschmann hier endgültig mit einem Klischee.

Begonnen hat der lange Weg, der ihn an diesem Abend auf den roten Premieren-Teppich vor dem Berliner Ensemble führt, 1962 in Dessau. In der Erinnerung sieht sich Thomas Kretschmann dort als Schlüsselkind, das mit Vorliebe auf dem Fußballplatz hinter jener roten Backstein-Schule kickte, in der seine Mutter Lehrerin war. Beim Eintritt in die Kinder- und Jugend-Sportschule wird der Zehnjährige gefragt, ob er Schwimm-Weltmeister werden wolle. Er will - und lernt "Kacheln zählen", bis es für den Olympia-Kader dann doch nicht reicht. Nach dem Abitur weiß der auf Leistung getrimmte Sportler nicht so recht, was er nun leisten soll - und flieht, trotz bestandener Aufnahme-Prüfung an der Schauspielschule, 1983 nach Westberlin.

"Ich bin ein großer Weggeher", sagt Kretschmann heute, wenn man ihn nach seinem konsequenten Verzicht auf Rückkehr in die alte Heimat fragt. Und: "Zu Hause bin ich eher bei Menschen" - also bei seiner Frau und den drei kleinen Kindern in Los Angeles, wo er inzwischen dauerhaft lebt. Den Wechsel dorthin hat sich der Schauspieler, der am Berliner Schillertheater einst mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet wurde, in großen internationalen Film-Produktionen erarbeitet. In Joseph Vilsmaiers "Stalingrad" war er einer der jungen, desillusionierten deutschen Soldaten, für "U-571" stand er mit Harvey Keitel vor der Kamera.

Das war die erste Hollywood-Produktion - und das alte Klischee: Deutsche spielen in Amerika den bösen Nazi, der nur Endsieg oder Untergang kennt. Dass Kretschmann die Aufgabe dennoch annahm, "um davon auszugehen und wegzukommen", hat sich sichtlich gelohnt. Während er in Deutschland zuletzt in der Krimi-Serie "Der Solist" und im Thriller "Feindliche Übernahme" zu erleben war, traut man ihm international mehr zu. Demnächst wird er in einem Film zu sehen sein, der von der Konfrontation des KZ-Arztes Josef Mengele mit seinem Sohn erzählt.

Obwohl er in Action-Streifen wie "Blade II" "immer das Gegenteil der vorigen Rolle" sucht, wird sich auch dieser Streifen wieder mit dem Dritten Reich beschäftigen. Eine Obsession? In der DDR, sagt Kretschmann, habe man nach der Schulzeit ja geglaubt, alles über die Nazi-Zeit zu wissen. Spätestens bei Polanski aber habe er solche Gewissheiten verlernen müssen. Und für diesen Regisseur, der einen Teil seiner eigenen Biografie verarbeitet habe, sei er wie ein leeres Blatt am Set erschienen: "Beschreib' mich!". Das hat sich gelohnt. Sein Hauptmann ist ein Hoffnungsträger inmitten der Apokalypse. Einfach, weil er ein Mensch bleibt.