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Theater der Altmark Theater der Altmark: Friedhof der Kraftpakete in Stendal

Von ANDREAS HILLGER 24.05.2010, 15:03

STENDAL/MZ. - Wie ausgeweidete Tiere stehen die alten Lokomotiven auf den toten Gleisen, tief klaffen die Löcher in ihren Führerständen und Motorblöcken. Container voller Schlacke und Röhrenhaufen säumen den Weg, der mächtige Schornstein raucht längst nicht mehr - verkommenes Ufer, eine Landschaft wie aus einem Text von Heiner Müller. Es ist ein brillanter Einfall des Stendaler Intendanten Dirk Löschner, die Open-Air-Inszenierung zum Abschluss seiner ersten Spielzeit auf jenen Teil des Alstom-Geländes zu verlegen, auf dem die Instandhaltungsfirma Schienenfahrzeuge als Ersatzteillager hortet. Denn der "Ajax" des Sophokles spielt schließlich am Ende des Trojanischen Krieges im Schiffslager der griechischen Invasoren - mithin auch auf einem Friedhof der Mobilität.

Dass man im Theater der Altmark eine besondere Affinität zur Antike pflegt, hat mit dem berühmtesten Sohn der Stadt Stendal zu tun - mit dem Altertumsforscher Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), der seinen Zeitgenossen im 18. Jahrhundert die Kunst der Griechen als Ideal vorhielt. Von klassizistischer Glätte freilich ist die aktuelle Annäherung weit entfernt: Löschners "Ajax" ist ein Requiem auf das Jahrhundert der Ideologien, das in eine düstere Vision mündet. "Gib mir eine einfache Welt" steht auf dem Plakat, auf dem ein Mann sein Kind mit einer Pistole bedroht.

Rund um den hohen Kamin, der wie ein Obelisk des Industriezeitalters in den Abendhimmel ragt, haben die Ausstatter Christopher Melching und Christof von Büren einen szenischen Parcours gelegt: Aus einer Garage kommt anfangs die Göttin Athene im Mercedes-Cabriolet gefahren, das vor dieser Kulisse tatsächlich wie ein göttlicher Streitwagen wirkt. In einem blutgetränkten Zelt begegnet man später dem Helden Ajax, der die Herden der Griechen geschlachtet hat - im wahnhaften Glauben, jene Heerführer vor sich zu sehen, die ihm die Waffen des gefallenen Achilles verweigerten. Aus Industrieschrott ist der Altar zusammengeschweißt, auf dem die Trauernden ihre Locken für den von eigener Hand gefallenen Krieger opfern. Über allem öffnen sich die Türen, aus denen Menelaos und Agamemnon ihr vernichtendes Urteil verkünden...

Es ist ein kleines, feines Ensemble, das die große Geschichte erzählt: Jan Kittmann strotzt in der Titelrolle anfangs vor Kraft und wechselt als Teukros in die Haltung eines sophistischen Anwalts, der um das Recht seines toten Bruders auf eine standesgemäße Bestattung kämpft. Frederike Duggen zeigt als Sklavin Tekmessa, wie erzwungene Zuneigung durch die Sorge um die Zukunft ihres Sohnes zu echtem Gefühl gesteigert wird. Michel Haebler ist der listenreiche Opportunist Odysseus, der aus Staatsräson für seinen toten Feind plädiert. Das Brüderpaar Menelaos und Agamemnon (in einer Doppelrolle: Bernd Marquardt) sowie der Bote (Sören Ergang) führen einen Stellungskrieg, dessen Ziel sie längst aus den Augen verloren haben.

Die wichtigste Rolle in diesem Spiel aber übernimmt ein außergewöhnlicher Chor: Während Andreas Schirra die Passagen solistisch spricht, werden diese von einer Percussiongruppe eindrucksvoll unterstützt und akzentuiert. Schon der erste Auftritt sorgt für Gänsehaut: Auf die Metallhaut der Lok-Kadaver werden treibende Rhythmen geschlagen, wie ein Heer von Untoten tauchen die bleichen Krieger in Guerilla-Uniformen aus ihrer Tarnung auf. Mit stummen Gesten lenken sie die Zuschauer zu den Schauplätzen. Am Ende lösen sie das Bündel, das den Nachkommen des Ajax bergen soll - und marschieren hinter dem schwarzweißroten Banner, das sich dabei entfaltet, fackeltragend und trommelschlagend in die Nacht.

Man kann darüber streiten, ob diese Pointe - die Verführbarkeit einer führerlosen Masse - tatsächlich der Intention des Stückes entspricht. Dass sie aber erschreckend zeitgemäß ist, zeigt der scheinbar gemütlichste Moment des Abends. In einem Intermezzo am lodernden Feuerkorb teilen die Darsteller mit dem Publikum einträchtig Brot, Wein und Wasser - und einer der Chor-Musiker packt die Gitarre aus. Die passenden Lieder sind schnell gefunden - "Partisanen vom Amur", "Spaniens Himmel" und "Der kleine Trompeter". Erschreckend, wie lustig das den meisten noch über die Lippen kommt.

Nächste Vorstellungen: am 4., 5. , 24. und 25. Juni, jeweils 20 Uhr