Thalia Theater Halle Thalia Theater Halle: Mit der Straßenbahn als Zeitmaschine
Halle/MZ. - Wir sitzen einander gegenüber, in einem kleinenCafé in Berlin-Reinickendorf. Eine freundliche,erkennbar nicht reiche Gegend. Aller Augenblicke,scheint's, streifen startende Flieger fastdie reinlichen Dächer: Tegel liegt nebenan.Nach einem dunkleren Typ sollte ich Ausschauhalten, hat er gesagt, als wir einen Treffpunktverabredeten. Josef Muscha Müller gehört zuden Sinti. Ein Zigeuner also, wie man in Deutschlandnoch lange gesagt hat. Inzwischen haben sichimmerhin offiziell die korrekten VolksbezeichnungenSinti und Roma durchgesetzt, aber Vorurteilesind zählebig: Zigeuner sind fahrendes Volk,hat man hierzulande noch unter der Hand hörenkönnen, sie stehlen Hühner und nehmen Kindermit sich fort. Daraus wächst immer noch, schonwieder Hass, der sich dumpf gegen alles Schwacheund Fremde richtet. Josef Muscha Müller hates erfahren, hat sich gegen Pöbeleien undBedrohung wehren müssen.
Und wer spricht indessen über die Verbrechen,die während des "Dritten Reiches" an Sintiund Roma verübt worden sind? Nicht irgendwoan irgendwem, sondern hier, in unserer Nachbarschaft.Zum Beispiel in Halle, an Josef Muscha Müller.Folgerichtig hat man sich nun am Thalia TheaterHalle seiner Leidensgeschichte angenommen.
Bekannt war sie schon lange, unklar blieb,wie man sie umsetzen könnte, erzählt der RegisseurMarold Langer-Philippsen. Bis ihm dann dieIdee mit der Straßenbahn kam, die prägendfür das hallesche Stadtbild ist und schließlichauch eine Rolle in Josef Muscha Müllers Erinnerungenspielt. Mit der Straßenbahn, Linie 1, fuhrseine Pflegemutter mit ihm in die Stadt, zumRassenamt. 1943 war das, der Junge elf Jahrealt. Nun nahm die Nazi-Diktatur mit grausamer,bürokratischer Präzision den Kampf gegen dasZigeunerkind auf. Niemand hat ihm das damalsgesagt, aber die Angst hat er sofort gehabt,die erinnert er bis heute. Sein Schicksalwar vorgezeichnet: Nach der Operation in einerKlinik am halleschen Weidenplan, die Widerständlervergeblich durch eine Geldzahlung an den ausführendenArzt zu verhindern suchen, soll Josef MuschaMüller deportiert und ermordet werden. Schließlichgelingt es Helfern, die Flucht aus der Klinikund ein Versteck in einer Laubenkolonie ander Frohen Zukunft zu organisieren.
Das ist die Geschichte, Schauspieler des ThaliaTheaters werden sie erzählen, entlang derverbürgten Schauplätze. Es wird nichts "vorgeführt",Spielen wäre ihm unangemessen erschienen,sagt Marold Langer-Philippsen. Und es sollum Gottes Willen nichts pathetisch klingen.Der Regisseur glaubt an die Vorstellungskraftdes jungen Publikums, das in die verfremdende,zum Blick nach draußen verleitende Straßenbahngebeten wird. Sie wird wie eine Zeitmaschinefunktionieren, ist der 37-Jährige überzeugt:"Man kann jemanden zurückversetzen, auch wenner die heutigen Fassaden sieht."
Weitere Verstärkung wird es nicht geben -bis auf eine: Jeder Schauspieler wird eineeigene, persönliche Geschichte erzählen, diein den Text von "Zwangssterilisiert" montiertwerden wird und als zusätzlicher Brücke indie Geschichte funktionieren soll. In einerdieser Geschichten wird von der Reaktion einesJungen die Rede sein, dessen Großvater ebenkein Widerstandskämpfer, sondern ein SA-Manngewesen ist. Eine andere berichtet, welcheBilder ein Kind vom Bombenkrieg bewahrte.
Die Fahrt mit der Bahn führt zu den authentischenOrten der Geschichte: Markt, Hallmarkt, derWeidenplan und die Frohe Zukunft werden Stationensein. Natürlich hat sich die Kulisse der Stadtüber die Jahrzehnte verändert, erkennbar bleibtsie doch. Die ungewöhnliche Inszenierung wirdRäume zum Besinnen und auch für die Beantwortungvon Fragen haben - gerade auf den Fußwegen,die dazu gehören. "Wir gehen ein Stück desWeges zusammen", sagt Marold Langer-Philippsen.Wenn es denn eine abgemessene Form des Umgangsmit Josef Muscha Müllers Schicksal gibt -so muss man sich das vorstellen.