"Tatort"-Kritik "Die letzte Wiesn" "Tatort"-Kritik "Die letzte Wiesn": Schöne "Tatort"-Atmosphäre mit schwächelnden Details

Der Fall:
Es ist Oktoberfest und München im Ausnahmezustand. Hauptkommissar Franz Leitmayr sucht daher wie jedes Jahr das Weite. Kaum in Italien angekommen, ruft sein Kollege Batic ihn zurück. Ein junger Mann wurde tot aufgefunden. Noch auf dem Weg in den Urlaub hatte Leitmayr dem Italiener geholfen, der sichtlich betrunken am Bahnsteig lag. Er starb jedoch nicht an zu viel Promille, wie sich nun herausstellt, sondern an der Droge GHB, die in sein Getränk gemischt wurde. Diese kann in Verbindung mit Alkohol tödlich sein.
In dem Amperbräu-Zelt, in dem das Opfer zuvor feierte, häufen sich die Vorfälle. Da liegt es nahe, dass einer der Angestellten aus Rache gegen die Wiesnwirtin Kirsten Moosrieder die Schließung des Zeltes veranlassen will. Moosrieder erbte das Zelt von ihrem Mann Alois und macht sich seitdem mit willkürlichen Entlassungen unbeliebt. Als Restaurantleiter Riedl, der mit der neuen Chefin überhaupt nicht auf einer Linie ist, nach einem Vergiftungsfall plötzlich verschwindet, zweifeln die Kommissare nicht mehr an seiner Schuld.
Die Auflösung:
Leitmayr und Batic finden Riedl im Hause seiner Mutter vor. In der Nacht hatten ihn Männer überfallen und misshandelt, die von Frau Moosrieder und ihrem Assistenten Georg Schemberg angestiftet worden waren. Ihr Motiv: Riedl hatte eine Affäre mit Alois Moosrieder. Mit den Vergiftungen hat er nichts zu tun.
Stattdessen kommen die Kommissare dem Verdächtigen Arthur Gränsel auf die Spur. Dieser war Batic im Festzelt aufgefallen und von Leitmayr vernommen worden. Bereits in Gränsels Heimatsort Landshut hatte es Vergiftungsfälle mit GHB gegeben, diese hörten jedoch abrupt zu dem Zeitpunkt auf, als Gränsel nach München zog. Und hatte er nicht gegenüber Leitmayr behauptet, nur ein einziges Mal im Amperbräu gewesen zu sein? Dabei trug er an diesem Tag ein rotes Eintrittsbändchen, obwohl Batic ein grünes Bändchen aufgefallen war.
Gränsels Motiv Beweggründe bleiben offen, denn er ist bei Ankunft der Kommissare bereits tot- Selbstmord. Der Fall ist aber noch nicht abgeschlossen, denn zum Zeitpunkt der letzten Vergiftung, die für das Opfer tödlich endete, war Gränsel nicht mehr am Leben. Auch wenn Leitmayr es nicht wahrhaben möchte: Alles deutet auf die Bedienung Ina Sattler hin, die ihm zu gefallen scheint. Sie gesteht den Mann vergiftet zu haben. Das Opfer ist der für Sattler zuständige Mitarbeiter des Jugendamts gewesen. Er hatte sie wegen ihrer Drogenvergangenheit erpresst: Sattler musste mit ihm schlafen, damit er ihr nicht das Kind wegnahm.
Die Kommissare:
Leitmayr und Batic scheinen in dieser Folge zu sehr mit privaten Belangen beschäftigt zu sein, als dass sie bei der Arbeit Raffinesse an den Tag legen könnten. Gränsels Überführung ist kein Knotenpunkt komplexer Ermittlungsstränge. Die Auflösung liegt am Ende salopp formuliert in den alten Akten. Dafür scheint die anfängliche Verdächtigung von Schemberg sehr weit hergeholt. Warum nochmal kommt er überhaupt als Täter in Frage?
Der Täter:
Arthur Gränsel macht es Leitmayr und Batic nicht gerade schwer. Einsilbig und mit steinerner Mine antwortet er auf ihre Fragen und für den Zuschauer ist ohnedem schon klar, wer der Täter ist. Gränsel ist ein hervorragender Vorzeige-Soziopath: Er lebt ein einsames Leben in der Wohnung seiner verstorbenen Großmutter. Außer einem überdimensionalen Poster des Batman-Antagonisten Joker, der ja als der Wahnsinn in Person gilt, hat er hier alles so belassen, wie es war. Letztlich bleibt er zu sehr Schablone, um zu einem wahren Charakter zu reifen.
Lesen Sie im nächsten Abschnitt, was gut war und was besser gewesen sein könnte.
Das war gut:
Die atmosphärischen Szenen der Folge sind sehr gelungen. Ton, Stimmung und Farben erzeugen unterschiedliche Sphären: Die geradezu idyllischen Rückzugsorte von Leitmayr und Batic (italienische Landschaften/Garten), das visuell-akustische Wirrwarr des Oktoberfests mit bedrohlichen Bildern und zuletzt die Welt des Täters, die in meist ruhigen Einstellungen vorgestellt wird.
Hinzu kommt ein beeindruckendes Schauspiel von Gisela Schneeberger als Kirsten Moosrieder und Mavie Hörbiger als Ina Sattler, die mit Sätzen wie „Auf der Wiesn kann sich jeder benehmen, wie die letzte Sau. Aber solange man im normalen Leben schön angepasst und bieder ist, interessiert das keinen.“ den Nagel auf den Kopf trifft. Zum Schluss ist da eine optisch schöne, wenn auch symbolisch sehr explizite Szene, in der Arthur Gränsel tot aufgefunden wird. Völlig nackt auf dem Bett, auf seine Urexistenz zurückgeworfen, und mit einer weißen Taube auf dem Körper.
Außerdem sollten Sie für Ihren nächsten Wiesnbesuch diese Tatort-Folge als Handlungshilfe zu Rate ziehen: „Dove vivi?“ bedeutet auf Italienisch „Wo lebst Du?“ und sollte Ihnen mit betrunkenen Italienern am Bahnsteig helfen. Achten Sie auf den Pegel, denn: „Alkohol macht Birne hohl“ und trinken Sie als Frau keinesfalls von den Gläsern junger Männer, die primär potenzielle Vergiftungsopfer sind.
Lassen Sie ihre drei alten Tanten niemals alleine auf das Oktoberfest, denn die treiben es meist wilder, als Sie selbst und überlassen Sie Ihre Wohnung keinesfalls jungen, feierwütigen Touristinnen. Trauen Sie grundsätzlich niemandem zur Wiesnzeit. Und: Seien Sie immer nachsichtig mit den Bedienungen im Festzelt, denn diese haben einen „scheiß Job“.
Das könnte besser sein:
Kriminalserien sollten in Zukunft einen großen Bogen um Sätze, wie „Der Täter ist ein Einzelgänger und hat wahrscheinlich ein stark unterentwickeltes Bewusstsein“ machen. Ausnahmslos. Ein wenig mehr Subtilität in Bezug auf die Täteridentifizierung hätte der Ermittlungsdramaturgie, die in dieser Folge insgesamt in den Hintergrund rückt, gut getan. Ein schwarzgekleideter Mann mit Kopfhörern! Nüchtern! Im Festzelt! Jeder anwesende Betrunkene hätte da was geahnt.
Fazit
Szenen, die in schönen Bildern auf Atmosphäre und Umgebung der Figuren eingehen, machen ein altbekanntes Format wie das des Tatorts spannend. Die Story sollte jedoch nicht darunter leiden.