«St. Pauli Nachrichten» «St. Pauli Nachrichten»: Von der «Bild»-Parodie zur Sexpostille

Hamburg/ddp. - EinKriterium, das Model Jule erfüllt. Auch die Inhalte des Hefts treffenbesondere Geschmäcker, der Titel der aktuellen Ausgabe kündigtGeständnisse von Frauen mit «perversen Neigungen» an. Die «St. PauliNachrichten» feiern in diesem Jahr ihr 40-jähriges Erscheinen, ihrenUrsprung jedoch hatte die Sexpostille im anarchischenSelbstverständnis der einstigen Protestbewegung.
Als im April 1968 der damalige «Spiegel»-Fotograf Günter Zint dieerste Ausgabe der «St. Pauli Nachrichten» veröffentlichte, war derAnspruch ein anderer: «Ich hatte mich - wie heute auch noch -fürchterlich über die 'Bild' geärgert», erinnert sich der 66-Jährige.Also habe er das Boulevard-Blatt parodiert. «Die Titelzeilen habenwir uns über Rotweinflaschen hin- und hergeworfen», beschreibt er diedamalige Arbeitsatmosphäre. Meist sei von den fabuliertenSchlagzeilen diejenige genommen worden, über die in derRedaktionsrunde zuvor am lautesten gelacht wurde, etwa: «Angst undSchrecken über Venlo - Wollte Franz J. Strauß Lufthansa-Jet kapern?»
Bald fingen die Leser wegen der örtlichen und inhaltlichen Nähezum Hamburger Kiez an, Kontaktanzeigen zu schicken, die später unterder Rubrik «Seid nett aufeinander» liefen. Mit dem Veröffentlichenvon Nacktfotos hatte das Wochenblatt nach eineinhalb Jahren diebeachtliche Auflage von 1,2 Millionen Exemplaren erreicht.
Zint lebte zu jener Zeit in einer Kommune des SozialistischenDeutschen Studentenbundes. Unter den Mitbewohnern waren auch derdamals per Haftbefehl gesuchte Protestler Karl Heinz Roth und derspätere Enthüllungsjournalist Günter Wallraff, der entgegen derverbreiteten Legende nie für das Blatt geschrieben hat. «Er hat dasaber mit großem Spaß verfolgt», sagt Zint.
Die Sympathie für linke Szene und Studentenbewegung, nackte Frauenund unzweideutige Kontaktanzeigen hatte polizeilicheHausdurchsuchungen und Indizierungsversuche durch Behörden zur Folge.Das Bundesfamilienministerium kritisierte damals in bestemAmtsdeutsch, dass in dem Blatt «die geschlechtliche Betätigungausschließlich als Mittel der Genusserzielung» propagiert werde.
Um dem Verbot zu entgehen, veröffentlichten Zint und seinKompagnon Helmut Rosenberg ihr Blatt ab 1970 als Tageszeitung, dienicht indiziert werden konnte. Zu dieser Zeit schlossen sich auch derspätere «Spiegel»-Chef Stefan Aust und der heutige «Spiegel»-Autorund Schriftsteller Henryk M. Broder der Redaktion an, mit ihnen legtedas Blatt an politischer Schärfe zu.
«Der Reiz war, ein politisches Kampfblatt mitten unter Nutten zumachen», sagt Broder heute. Mit Artikeln über den Vietnam-Krieg, dieBundesregierung und linksradikale Thesen hätten sie sich ausgetobt.«Das Blatt war historisch irrelevant, aber genau das richtige für einpaar testosterongesteuerte Jungs, die Mädchen beeindrucken wollten.»
Nackte Frauen und politischer Anspruch seien dabei keinWiderspruch gewesen. «Ach was, das war wie Yin und Yang, das eineging nicht ohne das andere!», betont Broder. Die Autoren hättendamals sexuelle Freiheiten verteidigt, für deren Trivialität man sichheute schämen müsse.
Die wachsenden Kosten der täglichen Auflage von 15 000 Stückerforderten externe Geldgeber, «der Anfang vom Ende», sagt Zint. DieGier nach steigenden Umsätzen habe die Sozialkritik durch immer mehr«Nackedeis» ersetzt. Aus Frust stieg Zint aus, Rosenberg führte dasHeft bis zu dessen Ende Mitte der 70er Jahre allein weiter.
Ein Verleger kaufte den Heftnamen schließlich für 10 000 D-Markaus der Konkursmasse. Vor 22 Jahren wurde Jürgen Klebe Chefredakteurder Zeitschrift, die heute mit acht Mitarbeitern als «Lustblatt Nr.1» in einer monatlichen Auflage von 70 000 Stück produziert wird.Klebe war früher Nachrichtenredakteur, als Abstieg sieht er seineLaufbahn nicht: «Ich habe einen festen Freundeskreis, ich weiß, wieviel Freizeit ich habe und was ich jeden Monat verdiene.» Außerdemsei der Ruf der Zeitung viel schlimmer als ihr wirklicher Inhalt,findet er. Das Heft stehe für Spaß am Sex, nicht für Pornografie.
Günter Zint will trotzdem nichts mehr mit dem Blatt zu tun haben:«Der Chefredakteur darf mich nicht mehr als Gründer bezeichnen.» Fürseine Bemerkung, es handele sich bei den «St. Pauli Nachrichten»längst um ein «dümmliches Tittenblatt», habe er aber «abdrücken»müssen. «Mein freches Maul hat mich was gekostet.»
An die alten Anarcho-Zeiten denken jedoch alle gern zurück. «DerDruck der Zeitung war für uns schon der Beginn der Revolution»,erinnert sich Broder, «das war die schönste Zeit meinerjournalistischen Karriere!»