1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Sonderlager des sowjetischen Geheimdienstes: Sonderlager des sowjetischen Geheimdienstes: Verschollene erhalten ihre Namen wieder

Sonderlager des sowjetischen Geheimdienstes Sonderlager des sowjetischen Geheimdienstes: Verschollene erhalten ihre Namen wieder

Von Claus Blumstengel 12.08.2004, 19:45

Zerbst/MZ. - Mit dem Ziel der "Entnazifizierung" hat die sowjetische Besatzungsmacht nach dem Kriegsende 1945 bis Ende der 50er Jahre mehrere Hunderttausend deutsche Bürger festgenommen und in Lager gesperrt. Teilweise wurden hierfür bisherige Konzentrationslager wie Sachsenhausen und Buchenwald weiter genutzt, viele Inhaftierte mussten aber auch die folgenden Jahre in Sonderlagern des Geheimdienstes NKWD in der Sowjetunion verbringen.

Unter den Verhafteten waren Nazifunktionäre eben so wie Mitläufer und einfache Bürger, die im Dritten Reich keinerlei Funktion bekleidet hatten. Oftmals wurden sie Opfer von Denunziationen. Mitunter musste die sowjetische Wachmannschaft auch nur einen Gefangenentransport wieder auffüllen. Um gestorbene oder geflüchtete Häftlinge zu ersetzen, wurden willkürlich Personen, auch viele Jugendliche, festgenommen.

Mindestens 42 000 Menschen kamen bis 1950 in diesen Speziallagern um, nachweislich allein 543 aus dem Gebiet des heutigen Landkreises Anhalt-Zerbst. Unter den Opfern aus Anhalt-Zerbst befinden sich Dr. Friedrich Ernst Kluge, Chirurg am Krankenhaus in Coswig, umgekommen im November 1945 an unbekanntem Ort, Friedrich Bölke, Bürgermeister von Hundeluft, umgekommen im Lager Mühlberg 1946, der auf Grund einer Verwechslung in Zerbst verhaftete Joachim Wenzel aus Dessau, umgekommen im Lager Bautzen 1948, Friedrich Knape aus Buro, 1947 umgekommen in Sumy in der Ukraine, Kurt Ehrlich, Druckereibesitzer aus Roßlau, verstorben im Lager Mühlberg 1946, Hellmuth Müller, Syndikus der Hydrierwerke Rodleben, umgekommen im Lager Jamlitz 1946, Gastwirt Adolf Reisig aus Coswig, umgekommen im Lager Ketschendorf 1946 sowie Forstwirt Joachim von Kalitsch aus Bärenthoren, umgekommen im Lager Ketschendorf 1946.

Nicht selten erfuhren die Angehörigen erst nach der Wende vom Schicksal ihrer Lieben. Nachforschungen waren ihnen in der DDR untersagt, Rückkehrer durften unter Androhung erneuter Verhaftung nicht über ihre Erlebnisse in den Speziallagern sprechen. Der Tod Zehntausender Menschen wurde deshalb einfach vergessen.

Auch der Vater und der Onkel der damals siebenjährigen Annemarie Lüdicke aus Zerbst waren 1945 spurlos verschwunden.

"Seit vielen Jahren ist mir aufgefallen, dass Darstellungen der deutschen Zeitgeschichte die Jahre 1945 bis 1948 meist auslassen. Mir kam diese Zeit in den Überblicken wie ein Loch in der Geschichte vor", schildert Annemarie Lüdicke ihre Empfindungen während ihrer Nachforschungen, die sie mit der Öffnung der Archive 1990 begann. Dabei konzentrierte sie sich auf das heutige Gebiet des Landkreises Anhalt-Zerbst. Sie nutzte deutsches und russisches Archivmaterial und sprach außerdem mit Hunderten von Zeitzeugen, geht es der Autorin doch darum darzustellen, wie die Festnahmen die Bevölkerung in Anhalt-Zerbst trafen. Zum ersten Mal erhalten so die Opfer ihre Namen wieder. Allein die Liste der Verhafteten und Toten - nach Berufsgruppen geordnet - umfasst 46 Seiten.

Erlebnisberichte aus den Sonderlagern Weesow, Landsberg / Warthe, Buchenwald, Jamlitz, Mühlberg, Ketschendorf, Torgau und aus Kasachstan veranschaulichen das schwere Los der Betroffenen.

Annemarie Lüdicke wurde in einer Kaufmannsfamilie in Zerbst geboren. Ihre Urgroßväter und Großväter mütterlicherseits waren Pfarrer von St. Nikolai, St. Bartholomäi und St. Marien im Ankuhn. Nachdem drei ihrer Onkel 1941 im Krieg gefallen waren, kamen weitere Angehörige beim Bombenangriff auf Zerbst ums Leben. Ihre Großmutter und ihre Cousine fanden durch sowjetische Besatzungstruppen den Tod. Seit Kriegsende sind ihr Vater Gerhard Lüdicke sowie sein Bruder Hellmut vermisst.

Nachdem ihr ein Studium verweigert wurde, flüchtete Annemarie Lüdicke 1956 nach Hamburg, wo sie Pädagogik studierte. Sie arbeitete dort später als Studienrätin für Mathematik und Französisch. Als Sportlehrerin war ihr Spezialgebiet das Schwimmen. Sie nahm erfolgreich an mehreren internationalen Wettkämpfen teil und wurde 1988 Europameisterin im Senioren-Schwimmen.

Von 1993 bis 1995 unterrichtete Annemarie Lüdicke Deutsch, Musik und Sport in Saratow / Russland. Nach ihrer Pensionierung 2003 kehrte sie in ihre Heimatstadt Zerbst zurück, wo sie sich Forschungen zur Regionalgeschichte widmet.

Lüdicke, Annemarie: Vergessene Schicksale, Festnahmen in Mitteldeutschland 1945-1961, Verlag Extrapost Zerbst, ISBN 3-9807104-8-3, 228 Seiten, 15,50 Euro.