Schriftsteller Schriftsteller: Ralph Giordano liebt Deutschland wie es jetzt ist

Herr Giordano, Sie haben als Romanautor und Publizist wieder und wieder über Ihr Leben berichtet, besonders in Ihrem autobiografischen Roman „Die Bertinis“. Gibt es eigentlich zu Ihrem 90. Geburtstag noch biografische Details, mit denen Sie uns überraschen könnten?
Giordano: Doch, ja, es gibt da etwas. Das fällt in meine Schulzeit am altehrwürdigen Hamburger „Johanneum“. Einer meiner Lehrer war Dr. Werner Fuss, genannt „die Speckrolle“, der schlimmste Antisemit, dem ich in meinem an Antisemiten wahrlich reichen Leben begegnet bin. Er tyrannisierte mich mit Ungerechtigkeiten, mit fein dosierter Missachtung und mit Hass.
Weil Sie Jude waren?
Giordano: Meine Mutter war Jüdin. Aber vor 1933 hatte das in unserer Familie nie eine Rolle gespielt. Erst die Nazis haben mein Jude sein zum Thema gemacht, die Nazis haben mich zum Juden geprügelt. Und als Überlebender wollte ich es später dann auch sein. Aber als Kind – natürlich hatte diese Propaganda Wirkung auf mich: Stimmt das? Was ist los mit dir? Es war ungeheuer schwer, keine Minderwertigkeitskomplexe zu bekommen.
Aber dieser Lehrer, die „Speckrolle“ …
Giordano: … brachte mich so weit, bis mein Entschluss feststand, mich umzubringen.
Wann war das?
Giordano: Im November 1938, nach der Reichspogromnacht. Den ganzen Sommer über hatte ich mich in diese Verzweiflung hineingesteigert: „Du schaffst es nicht! Die Übermacht des Bösen ist zu groß, du kommst dagegen nicht an, und es kann dir auch keiner helfen. Also: Du wirst sterben! Du musst sterben.“ Als nun mein Entschluss feststand, habe ich hinter ein Gemälde in der Schule mit schwarzem Stift meinen Namen an die Wand geschrieben: R-a-l-p-h G-i-o-r-d-a-n-o.
Was für ein Bild war das?
Giordano: Ich weiß es gar nicht mehr. Darauf kam es aber auch nicht an. Ich wollte nur, dass der Schriftzug nach meinem Tod gefunden werden würde.
Wissen Sie, ob Ihr Graffito entdeckt wurde?
Giordano: Oh ja. Ich weiß nur nicht genau, von wem. Von Reinigungskräften vielleicht. Ich hatte mich auf einer Reitbahn in eine vier Meter tiefe Grube gestürzt, wo ich liegen bleiben wollte, bis ich tot wäre. Und niemand würde mich gefunden haben. Aber nach vier Tagen auf der Reitbahn, ausgekühlt, hungrig, kaum noch ein Mensch, da kam mir die Erleuchtung: „Nicht du bist derjenige, der sterben müsste. Die anderen sind es. Die „Speckrolle„ ist der Böse, nicht du.“ Von dem Moment an gab es für mich eine Rückkehr ins Leben. Und ich hatte nie wieder Minderwertigkeitskomplexe.
Glauben Sie, die Todessehnsucht, die Sie als 15-Jähriger hatten, könnte Sie als alten Mann noch einmal erreichen?
Giordano: Ich bin gewiss kein ängstlicher Mensch. Aber um mir Schmerzen zu ersparen, könnte ich mir das Leben nehmen. Ohne weiteres. Das hat gar keinen Schrecken für mich. Ich fürchte mich auch nicht vor dem Tod. Das braucht man ja auch nicht nach fast 90 Jahren. Ich fürchte mich nur vor dem Sterben. Die Deutungshoheit darüber möchte ich selber behalten. Dazu gehört es für mich eben auch, nicht unter Schmerzen zu sterben. Und im Lauf der Jahre bin ich immer schmerzempfindlicher geworden.
Sie sind ein ausgesprochener Freiheitsfanatiker. Ist der Suizid für Sie eine Form, menschliche Freiheit zu verwirklichen? Nach dem Tod von Gunter Sachs 2011 war viel davon die Rede.
Giordano: Gunter Sachs? Also, von dessen Leben bin ich weit, weit entfernt. Der Sachs ist ja schon mit silbernen Löffeln geboren worden. Das war bei mir vollkommen anders. Es waren schreckliche Drucksituationen, die mich als Jugendlicher dazu motivierten, Selbstmord zu begehen, nein, „Selbstmord“ ist falsch, „Selbsttötung“, sollte ich sagen.
Was halten Sie von dem Einwand, es gebe eine Pflicht, sich am Leben zu erhalten, weil der Mensch nicht Herr über sein Leben sei oder sein dürfe?
Giordano: Wer so dumm redet, hat keine Ahnung von dem, was einem Menschen widerfahren kann. Schauen Sie, Dackel Lumpi wird von seinem Herrchen „gnädig“ ins Jenseits befördert, wenn eine Krankheit dem armen Tier zu sehr zusetzt. Aber beim Menschen, da beginnt dann der große Zweifel. Ich sage es ganz klar: Ich bin für aktive Sterbehilfe.
Die ist in Deutschland strafbar.
Giordano: Absolut. Ja. Aber wissen Sie was: Helga, meine erste Frau, ist 1984 hier in dieser Wohnung durch aktive Sterbehilfe gestorben, die ich möglich gemacht habe. Ganz friedlich in ihrem Bett, mit 71 Jahren. Das war 1984, ist also bald 30 Jahre her, und ich heule nach wie vor, wenn ich in Schleswig-Holstein an ihrem Grab stehe. Mit Helgas Tod ist auch ein Teil von mir untergegangen. Aber die Alternative wäre nicht auszudenken gewesen. Die Krebszellen waren schon in ihr Gehirn eingedrungen. Und die Medizin war damals noch nicht so weit wie heute. Die Palliativmedizin schon gar nicht. Darum bin ich dankbar dafür, wie es gekommen ist. Diese Leute, die prinzipiell gegen aktive Sterbehilfe sind, wissen nicht, wovon sie reden. Sie reden so, weil sie selber noch nie mit ansehen mussten, wie der geliebteste Mensch vor Schmerzen schier umkommt.
Was haben Sie damals mit Ihrer Frau gemacht?
Giordano: Das werde ich Ihnen nicht verraten. Aber es war jemand hier bei mir, der mir geholfen hat.
Sind Sie je dafür belangt worden?
Giordano: Nein, bin ich nicht. Ich hätte das erwartet. Aber es ist nie etwas passiert. Nach Helgas Tod habe ich dann noch zweimal geheiratet. Beide Frauen sind inzwischen auch schon gestorben. Ich habe sie alle überlebt.
Glauben Sie an ein Wiedersehen?
Giordano: Nein, mein Lieber. Nein, nein. Mein ganzes Leben habe ich mich mit Religion auseinandergesetzt. Aber ich halte sie in jeder Art für den geistesgeschichtlichen Irrtum der Menschheit schlechthin. Gott, die Götter sind eine Projektion des Menschen, die sich in der Leere des Universums verliert. Alle Gebete, die Menschen je an einen Gott adressiert haben, sind in einem toten Briefkasten gelandet. Und je älter ich geworden bin, desto größer wurde mein Zorn auf die Religion, in deren Namen die entsetzlichsten Dinge geschehen sind.
Aber auch die großartigsten.
Giordano: Das stimmt. Nur sehe ich mich zu dieser Art Kompensationsgeschäft komplett außerstande. Eine Frau, die als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde – wie sollte ich ihr grausames Schicksal aufrechnen gegen den Lochner-Altar im Kölner Dom?
Sie sind weniger unduldsam als früher?
Giordano: Ja, das ist wahr. Ich bin bereiter, darauf zu hören, was andere bewegt und umtreibt, die nicht meiner Meinung sind. Bei allem, was mit der Nazizeit zu tun hat, bin ich zwar immer noch sehr empfindlich. Der Kampf für das Humane geht weiter, auch wenn ich 150 Jahre alt würde.
Wie kommt es, dass Sie nach alledem, was Sie berichten, trotzdem von sich als „Glückskind“ sprechen?
Giordano: Ich habe die Nazizeit überlebt. Das war die Voraussetzung für alles.
Sie meinen, Sie hatten die Negation des Lebens schon hinter sich?
Giordano: Es war mein Glück in diesem Land, in dieser demokratischen Gesellschaft groß geworden zu sein. Ich habe das gebraucht wie die Luft zum Atmen. Und ich hatte ein großartiges Leben. Ich bereiste die Welt, hatte als Journalist beim WDR alle Freiheiten, drehte mehr als 100 Dokumentarfilme, war mein eigener König. Und nach der Pensionierung 1988 begann ja erst mein Turbolauf als Schriftsteller.
Was sind für Sie die größten Bedrohungen heute?
Giordano: Ich schicke voran, dass ich die deutsche Demokratie für ziemlich stabil halte. Ich fürchte hier kein zweites 1933. Aber die Schmerzgrenze liegt nicht da, wo die Rechtsextremisten die Demokratie aushebeln. Das beginnt viel früher. Denken Sie an die unglaubliche Haltung des Verfassungsschutzes im Fall der NSU-Terrorzelle. Wovor müssen wir eigentlich mehr Angst haben? Vor der braunen Pest selber oder vor den Sicherheitsorganen?
Ist Deutschland ein besseres Land als vor zehn, 20, 30 Jahren?
Giordano: Wissen Sie, mir kommt es nicht ganz leicht über die Lippen: Aber Deutschland, Deutschland ist die Liebe meines Alters. Ich liebe dieses Land so, wie es jetzt ist. Und die Wahrheit ist: Ein Leben ohne Deutschland ist für mich unvorstellbar. Überall – außer in Israel – käme ich mir heimatlos vor. Auf meinen Reisen als Fernsehjournalist ist mir das häufiger durch den Kopf gegangen – in Schanghai, Santiago, Lagos: Was, wenn du nicht zurück könntest nach Deutschland, ins Land deiner Muttersprache?
Wir sprachen über Bedrohungen. Was beschäftigt sie heute sonst noch?
Giordano: Eine Not meiner späten Tage ist und bleibt Israel.
Israel?
Giordano: Damit wache ich morgens auf und schlafe abends ein. Was ich schon vor 20 Jahren in „Israel, um Himmels willen, Israel“ geschrieben habe, ist nach wie vor hochaktuell. Was wird in diesem 21. Jahrhundert aus Israel werden?
Hat die Politik der Regierung Netanjahu gegenüber den Palästinensern diese Frage nicht dramatisch verschärft?
Giordano: Wollen ungefährdete Deutsche besser wissen, wie die Regierung Israels und seine Bürger mit dem Hass ihrer Nachbarn fertig werden? Da ist so viel Irrationales im Spiel. Das macht die Antworten unendlich schwierig. Aber niemand kritisiert die israelische Regierung schärfer als die Israelis selbst. Es gibt freilich noch etwas anderes, was mich persönlich zunehmend bedrängt und bedroht.
Was ist das?
Giordano: Es sind die Träume. Die Träume. Sie waren für mich immer feindlich, mein ganzes Leben lang. Das mag damit zusammenhängen, dass der beste Freund meiner Kindheit 1935 aus heiterem Himmel zu mir sagte: „Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr. Du bist Jude.“ Das war, als sauste das Fallbeil der Guillotine auf mich herunter. Mir laufen heute noch kalte Schauer den Rücken herunter, wenn ich das zitiere.
Was sind das für Träume?
Giordano: Sie laufen immer nach demselben Muster ab: Ich sehe Menschen, die andere quälen. Die Szenerie kommt auf mich zu. Langsam. In dem Moment, wo sie zum Greifen nah ist und mich zu erfassen droht, reiße ich mich aus dem Schlaf. Ich bin schon aus dem Bett gefallen deswegen, habe mir die Schulter ausgerenkt. Mein Mitbewohner ein Stockwerk tiefer, auch ein Israeli, sagt dann und wann zu mir: „Na, war es wieder soweit?“
Weil er oben den Rums gehört hat.
Giordano: Ja. Aber in der letzten Zeit kommt noch etwas hinzu, wovor ich mich wirklich tief fürchte. Ich reiße mich, wie gesagt, aus dem Schlaf, befinde ich mich schon wieder bei wachem Bewusstsein. Aber das Traumbild bleibt vor meinem Auge stehen. Ich greife danach, schlage danach. Wohl wissend, dass es eine Chimäre ist. Ein Schwebezustand zwischen Tag und Traum. Jetzt ist ein Punkt erreicht, wo es überhaupt keinen Platz mehr gibt, an dem ich mich ruhig fühlen kann. Unbedroht. Nicht mal mehr im Schlaf. Und dieses Unheimliche, das da vor mir auftaucht, hat immer Menschengestalt.
Sind das bestimmte Menschen?
Giordano: Nein. Kein Hitler, kein Himmler, kein Heydrich. Keine Uniformierten mit Nazi-Emblemen.
Haben Sie daran gedacht, einen Therapeuten zu Rat zu ziehen?
Giordano: Ich glaube, das wäre total sinnlos. Ein Therapeut muss ergründen, woher diese Träume kommen. Aber das ist ja vollkommen klar!
Sie haben auch früher nie eine Therapie gemacht?
Giordano: Nein, nie. Und heute, ach, mein Lieber, wie lang habe ich denn noch zu leben?
Sie meinen, das lohnt sich nicht mehr?
Giordano: Ja! (lacht) Ich bin bis jetzt gut mit meinem Leben fertig geworden.
Herr Giordano, wenn Sie nicht glauben – worauf hoffen Sie?
Giordano: Dass die Menschen anständig leben. Eine ausschließlich diesseitige Hoffnung. Dass wir Menschen jene menschliche Welt schaffen, die die Religionen seit Jahrtausenden beschworen, aber nie verwirklicht haben.
Mit Ralph Giordano sprach Joachim Frank.