Schloss Wörlitz Schloss Wörlitz: Wo die Prinzen und Hofdamen hausten

Wörlitz - Man könnte, wenn man dürfte, sofort einziehen. Sparsam und funktional sind die sechs Appartements im Obergeschoss des Wörlitzer Schlosses eingerichtet, jederzeit bezugsbereit. Wie ladenneu stehen die restaurierten Möbel an den pastellblass getönten Wänden. Der Blick aus den Zimmern ist großartig. Er geht nach Westen und Norden über den großen Wörlitzer See hinweg in den frühjahrsgrünen Landschaftsgarten, nach Osten über das Küchengebäude zum Kirchhof. Letzteres ausgerechnet vom Schlafzimmer des Erbprinzen aus, der also das seit 1790 von seiner Mutter, der Fürstin Louise, bewohnte Haus im Blick hatte. Und diese die Zimmer ihres Sohnes. Das mag nicht jeder.
Obergeschoss des Wörlitzer Schlosses: Klappbett für den Diener
Ein Wohn- und ein Schlafzimmer bietet ein jedes der Appartements, in denen Fürst Franz von Anhalt-Dessau (1740-1817), der Bauherr des 1773 von Erdmannsdorff vollendeten klassizistischen Schlosses und Schöpfer des Dessau-Wörlitzer Gartenreiches, den inneren Zirkel seines Kernhofes untergebracht hatte; das Fürstenpaar fand seine Privaträume im Erdgeschoss, das von Anfang an auch für den Besucherverkehr geöffnet war. Das Landhaus genannte Schloss war nicht einfach nur eine ganzjährig nutzbare Residenz, sondern auch ein mit anderen Höfen konkurrierendes und touristentaugliches Musterhaus der um 1800 avancierten Bau- und Einrichtungskunst.
Wobei die Begriffe Wohn- und Schlafzimmer nicht im heutigen Wortsinn zu verstehen sind. Im Wohnzimmer wurde halböffentlich empfangen, im Schlafzimmer privat gewohnt, also geschrieben, gelesen, gefaulenzt. Deshalb stehen die Schreibsekretäre in den Schlafkammern, die oft auch ein aus der Wand klappbares Bett für den Bediensteten bieten. Herr und Diener schliefen in einem Raum. Der wurde beheizt, denn kühl war es immer in dem vom Grund her feuchten Schloss. Das müsste man heute also aushalten. Und die viel zu steilen Treppen, die August Rode als „Stiegen“ verspottete. Der Transport von Möbeln und Gepäck muss halsbrecherisch gewesen sein.
Im Obergeschoss des Wörlitzer Schlosses erwartet die Besucher eine Sensation
Der Wörlitz-Tourist nimmt diese Härten gern in Kauf. Denn das, was mit den höfischen Appartements von diesem Sonnabend an gezeigt wird, ist eine Sensation. Dass ein viel erforschtes und unter Weltkulturerbe-Status stehendes Schloss noch tatsächlich Neuigkeiten zu bieten hat, ist eine schöne Pointe im Jahr der 200. Wiederkehr des Todestages des Fürsten am 9. August. Nicht nur ist erstmals das Schloss von seinem Souterrain aus, in dem sich die Küchen-, Bade- und Kastellanräume befinden, bis auf das Dach hin, den Belvedere genannten Ausguck, zugänglich, sondern eben auch die sechs Appartements, die den Franz-Brüdern Hans Jürge und Albert, dem Erbprinzen Friedrich, dem Architekten und Hofkavalier von Erdmannsdorff, dem Oberhofmeister von Berenhorst und den Hofdamen der Fürstin zugewiesen waren. Nicht vor, nicht nach dem Ende der Monarchie im Jahr 1918 waren diese Zimmer für das Volk geöffnet. Nach dem Tod des Fürsten wurden gusseiserne Öfen in den als herzogliche Sommerferienzimmer genutzten Räumen installiert; nach 1875 wurden dunkle Tapeten geklebt; vor der Gründung der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz saß hier bis 1998 die Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Wörlitz, Oranienbaum und Luisium.
Es ist eine Rückgewinnung erster Klasse, die hier nach baulich-stofflichen und spärlichen archivarischen Befunden gelungen ist. Rode hatte die Zimmer seit 1788 nur oberflächlich erfasst; im 19. Jahrhundert wurden die Räume wechselnd möbliert. Immerhin der Bildschmuck blieb größtenteils der alte. Und die von Franz in England gekauften Spiegel, die etwas zu groß geraten sind für den Erdmannsdorffschen Stuckschmuck.
Dekorprogramm der Zimmer war auf deren Bewohner abgestimmt
Es ist ein Vergnügen, mit Annette Scholtka, der leitenden Baudenkmalpflegerin, und Ingo Pfeifer, dem Historiker der Kulturstiftung, durch die einst jeweils separat vom Flur aus zugänglichen, im 19. Jahrhundert miteinander verbundenen Appartements zu gehen. Beide weisen auf die Qualität der Möbel hin, die in einem Depot ausgelagert waren. Annette Scholtka zeigt, dass die Innenwände als Fachwerk ausgeführt worden waren, was einerseits den Einbau von Wandschränken und -betten ermöglichte, andererseits die auf den Putz aufgetragenen, bestens erhaltenen Ansichten von Venedig, Rom oder Neapel einem steten Stresstest aussetzen.
Das Schloss Wörlitz wurde von 1769 bis 1773 unter Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau errichtet. Baumeister Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff schuf damit den Gründungsbau des deutschen Klassizismus. Am Anfang der umfassenden Sanierung der letzten Jahre stand von 2000 bis 2002 die Deckensanierung mit dem Austausch aller Balkenköpfe, die vom Hausschwamm befallen waren. In den Jahren darauf wurden das Dach neu gedeckt, das Dachgeschoss saniert und die Decke über dem Mezzanin erneuert. Es folgten Sanierungen an den Fußböden im Palmensaal und an der Dachterrasse. Die Außenwände des Schlosses wurden von 2008 bis 2010 komplett trocken gelegt und Vertikalsperren eingebaut. Nach der baulichen Instandsetzung folgten die Innenarbeiten im Belvedere und Mezzanin. Der nun abgeschlossene Bauabschnitt macht die Räume des Obergeschosses, die Chinesischen Zimmer, den Festsaal und den unterirdischen Gang zum Küchengebäude wieder zugänglich. Bis 2021 sollen dann noch die restlichen Räume des Hauptgeschosses restauriert werden.
Das Dekorprogramm der Zimmer war auf deren Bewohner abgestimmt, erläutert Pfeifer. Das blaue Erbprinzen-Wohnzimmer zeigt an der stuckierten Decke die Erziehung des Jupiter, die des hellgrünen Erdmannsdorff-Wohnzimmers die Urania als Muse der Wissenschaft, die Hofdamen versammelten sich unter Amor und Psyche, Berenhorst hauste in einem militärisch-nautischen Rundumdekor. Die Kupferstiche sind größtenteils in originaler Rahmung überliefert, deren Hängung war an den Wänden notiert. Die wurden in ihre Originalfarbigkeit gebracht; die des 19. Jahrhunderts wurde überfasst.
Waschschüssel mit dem Stempel „Schloss Wörlitz“ zu entdecken
Wer besaß das schönste Zimmer? Erdmannsdorff, sagt Annette Scholtka. Der konnte nach Westen und Norden über die Wörlitzer Anlagen blicken. Man könnte auch für Hans Jürge stimmen: Der sah vom Wohnzimmer aus auf das Nymphäum. Aber auch in den Räumen lässt sich einiges entdecken. Im Albertschen Schlafzimmer etwa eine von Villeroy und Boch gefertigte Waschschüssel mit dem Stempel „Schloss Wörlitz“, eine Skulptur der Königin Luise im Hofdamenzimmer, nach 1819 gefertigte Einträge aristokratischer Besucher an Alberts Schlafzimmerfenster - Zutaten des 19. Jahrhunderts, die von der nachfranzischen Nutzung erzählen. Und auch die Fürstin ist anwesend. Im kleinen Schlafzimmer des Erbprinzen steht der Originalschreibtisch der viel lesenden, viel schreibenden Louise: die grüne Wachstuchplatte wild gefleckt, ein Zeugnis des von Schiller benannten „tintenklecksenden Säkulum“. (mz)
Schloss Wörlitz von diesem Sonnabend an: im April Di-So und an den Feiertagen 10-17 Uhr, von Mai bis September Di-So und an den Feiertagen 10-18 Uhr. Im Mitteldeutschen Verlag ist ein von der Kulturstiftung verfasster Bildtextband zum Schloss erschienen, der auch durch die neuen Räume führt. Kulturstiftung Dessau-Wörlitz (Hg.): Schloss Wörlitz. Architektur, Interieur, Sammlungen, Bewohner. Mitteldeutscher Verlag, 256 Seiten, 24,95 Euro (dt., engl.)