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Schleef-Festival Schleef-Festival: Nach Sangerhausen!

Von ANDREAS HILLGER 09.10.2011, 17:53

SANGERHAUSEN/MZ. - "Meine Wurzeln hier, fest eingeschlossen, der Boden so enge durchwirkt, dass ich nicht mehr atmen kann." Der Text, den der Alte im Sangerhäuser Herrenkrug spricht, ist ursprünglich als Monolog einer Frau gedacht - und von einem Mann geschrieben worden. Dass er aber Einar Schleefs Mutter ebenso wie deren verlorenen Sohn meint, ist vielen Augenzeugen bei dieser späten Heimholung bewusst: Schließlich ist der große Roman "Gertrud" das Werk, dem der kleine Ort seinen Platz auf der literarischen Landkarte des 20. Jahrhunderts verdankt - und "Totentrompeten IV" das Stück, das zehn Jahre nach dem frühen Tod des Autors endlich seinen Ausgangspunkt erreicht. In diesem unvollendeten Text träumen sich Trude, Elly und Lotte aus amerikanischer Ferne zurück in die mitteldeutsche Heimat - "Nach Sangerhausen, nach Sangerhausen", wie es in Abwandlung von Tschechows "Drei Schwestern" heißen müsste.

Es ist ein Glücksfall, dass Ernst M. Binder nach der Uraufführung der drei vollendeten Teile nun auch das finale Fragment der "Totentrompeten" inszenieren und das Ergebnis beim Festival "Vor uns das verhießene Land" zeigen konnte. Denn damit wurde nicht nur eine empfindliche Lücke in der Rezeptionsgeschichte des Autors geschlossen, sondern auch dem Regisseur eine überfällige Ehre zuteil. Er war es nämlich, der Schleef immer wieder zur Fortschreibung der Geschichte von den drei alten Schachteln animiert und damit nicht zuletzt ein großartiges Dokument ostdeutscher Zeitgeschichte inspiriert hatte. Mit seinem Grazer Ensemble tat Binder nun alles, um aus dem Bruchstück einen vollwertigen Theaterabend zu machen: In einem virtuosen Vorspiel zeigte er die ersten Schwimmversuche eines ostdeutschen Polizisten im Sprachfluss der Nachwende, in der Nachrede ergänzte Ingo Waszerka das Spiel um jenen Nekrolog, den Schleef seiner Mutter und sich selbst in den Mund gelegt hatte.

Im Zentrum aber stand die von Schleef selbst als Elegie konzipierte Reise der drei Sangerhäuser Frauen in das Land der Verheißung - eine Fahrt in die Fremde, die sich am Ende doch nur wieder wie das Wohnzimmer in der Mogkstraße anfühlt. Der Absurdität des Anlasses - der Gewinn einer Castingshow zur "Miss Nudel" - entspricht der surrealen Situation vor Ort.

Da brechen alte Rivalitäten auf, werden Lebensbeichten und Schuldzuweisungen ausgetauscht - und schließlich siegt die körperliche Hinfälligkeit über die Neugier auf das Fremde. Binders Konzept, die großen alten Damen der drei ersten Teile durch die jüngeren Darstellerinnen Katja Brenner, Sophie Engert und Ninja Reichert zu ersetzen, sorgt für eine sinnfällige Verfremdung: "Gute Reise auf Wiedersehen" ist tatsächlich ein Dejá-vù, die Uhr wird noch einmal zurückgedreht - aber der Erfahrungshorizont ändert sich nicht. Ein Text wie die namensgebenden Pilze, die Schleef einst treffend beschrieb: "Essbar erscheinen sie nicht, abschreckend, schmecken dafür um so besser."

Während das eigentliche Festival bereits am Sonntag zu Ende ging, bleiben einige der damit verbundenen Initiativen längerfristig oder sogar dauerhaft erhalten. Dazu zählen die Ausstellungen im Spengler-Museum, die Ausblicke auf den bildnerischen Nachlass sowie auf Leben und Werk des Sangerhäusers Schleef bieten. Die vom Landeskunstmuseum Moritzburg Halle kuratierte Auswahl von Gemälden und Zeichnungen nehmen vor allem das Selbstbild des Künstlers und die Entwicklung seiner Handschrift in den Blick - vom

der Boden so enge durchwirkt naturalistischen Epigonen zum eigensinnigen, selbstkritischen Maler mit kräftigem, oft fast grobianischen Gestus. Ihre neu gestaltete Dauerausstellung erzählen Wolfgang Behrens und Christina Voigt hingegen von der Verschriftlichung des Lebens her: Auf einer Wand sind - wie einst in Schleefs großer Berliner Personalausstellung - Seiten aus dem Roman "Gertrud" aufgereiht, die am Boden in einen Teil des Stadtplans ausläuft. Gegenübergestellt sind Fotos aus dem Bildband "Zu Hause" und Reproduktionen seiner großen Deutschlandgemälde. Und schließlich läuft man - vorbei an den "Telefonzellen"-Bildern, die von der Einsamkeit des Exilanten erzählen - in jenen Raum, der von Schleefs Bühnenarbeit erzählt. Hier staunt man einmal mehr, dass es dem Regisseur gelungen ist, mit nur 17 Inszenierungen in drei Jahrzehnten Theatergeschichte zu schreiben.

Auch in der Aula des Geschwister-Scholl-Gymnasiums, wo am Sonntag die Dessauer Inszenierung der "Abschlussfeier" von Armin Petras gastierte, genügt eine Wand für die Präsentation der Theaterplakate von Schleef. Mehr Raum beanspruchen die Entwürfe, die Sangerhäuser Schüler von heute für die Werke ihres direkten Vorgängers geschaffen haben. Rührend naiver Märchenton dominiert die Plakate für das Kinderstück "Der Fischer und seine Frau", jugendliche Rebellion prägt die Bilder zur "Abschlussfeier". Ob sich unter den Bildern ein neues Genie aus Sangerhausen befindet - wer weiß?

"Totentrompeten IV" Montag, 19.30 Uhr, im Theater Eisleben