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Sammlung Prinzhorn Sammlung Prinzhorn: Von Wunderhülsen und Willenskurven

Von Andreas Hillger 26.09.2002, 12:37

Jena/MZ. - Im Stadtmuseum Jena sind jetzt erstmals die"Wunderhülsen und Willenskurven" zu bestaunen,die der Kunsthistoriker und Psychiater HansPrinzhorn Anfang des 20. Jahrhunderts in Heidelbergzusammengetragen hatte, um daraus Materialfür seine Untersuchungen zur "Bildnerei derGeisteskranken" zu gewinnen. Dabei zeigt dieAuswahl aus mehr als 5000 vorhandenen Arbeitennicht nur den Einfluss der Kollektion aufdie Avantgarde vom Bauhaus bis zur Art Brut,von den Surrealisten bis zur Konzeptkunst.Sie ist zugleich ein Menetekel für Achtungwie Ächtung psychiatrischer Patienten.

Denn nachdem Prinzhorns 1922 erschienenesStandardwerk bald die Elite der bildendenKunst nach Heidelberg geführt hatte, dientedie Sammlung nach 1933 den Nationalsozialistenals Parade-Beispiel für jene "Entartete Kunst",die der konservative Psychiater Emil Kraepelinbereits 1895 als Begriff in die ästhetischeDiskussion eingeführt hatten. Während Künstlerwie Grebing oder Johann Faulhaber 1940 alsoder als "Euthanasie" berüchtigten Tötung zumOpfer fielen, überdauerten ihre Arbeiten alsideologisches Instrument der Mörder.

Dies freilich ist, so zynisch es klingen mag,ein Gewinn für die Nachwelt - auch darum,weil in heutiger Psychiatrie pharmazeutischeBlocker und fortgeschrittene Therapien dieFallhöhe der Patienten mildern. Die Arbeitender Künstler, die dauerhaften Depressionenoder schizophrenen Schüben schutzloser ausgesetztwaren, sind daher unwiederbringliche Zeugnissevon oft höchster artistischer Qualität.

In Jena, wo man sich auf die Mappenwerke undBücher konzentriert, öffnet sich dem Betrachtereine Schatzkammer: Hier findet sich die kalligrafischeWirrschraffur, zu der sich Emma Haucks wieein Mantra tausendfach wiederholte Gatten-Beschwörung"Herzensschatzi komm" als Bitte um Erlösungaus der Psychiatrie verdichtet. Dort findensich Else Blankenhorns inflationär dotierteGeldscheine, mit deren Hilfe "die Toten erlöst"werden sollten. Und während Peter Meyers kostbareIkonenblätter als Abbitte für sündiges Lebenstehen, entdeckt Carl Lange auf abgenutztenEinlegesohlen Beweise "göttlicher Gerechtigkeit".

Es wäre ein polemischer Kurzschluss, wennman aus dem nötigen Wissen um die privatenund pathologischen Weltbilder eine direkteParallele zu den oft kryptischen Entwürfenmoderner Künstler ziehen wollte. Dennoch erinnernetwa Grebings endlose Zahlenkolonnen nichtvon ungefähr an Hanne Darbovens oder On KawarasKonzepte. Der hypnotische Zustand, den dieseKünstler durch die stereotype Variation vonZiffern erzwingen wollen, scheint hier bereitsvon vornherein erreicht.

Neben religiöser Versenkung, die sich beispielsweisein den zu wahren "Wunderhülsen" ausgebautenBuchwerken des Heinrich Hermann Mebes äußert,behauptet die Schau als Kontrast zudem jene"Willenskurven", mit denen der hoch begabteHyacinth Freiherr von Wieser den Motor menschlicherCharaktere aufzuspüren suchte. Hier stehtman vis à vis von wissenschaftlich gemeintenDiagrammen und geometrischen Figuren, diebei intensiver Aufnahme den eigenen Willenbeeinflussen sollen.

Und obwohl diese Notate oft auf schäbigenAbfall-Papieren festgehalten und den Patientennicht selten mit Gewalt entrissen wurden,stellen sie doch die existenzielle Frage nachSelbstwert und nach der Definition des "Gesunden".