Rudolf Leonhard Rudolf Leonhard: Traumprotokolle aus der Lagerhaft
Halle/MZ. - Doch wer war eigentlich Rudolf Leonhard, der1953, 64-jährig, in Ost-Berlin starb? Dasist eine Frage, die vermeintlich den Spezialistenanheimfällt - den Germanisten oder den Exilforschern.Von denen kümmert sich heute jedoch kaum jemandum den Expressionisten. Nicht gerade bekanntist der Lyriker, Erzähler, Dramatiker. SeinLeben und sein Werk taugt gerade mal für eineFußnote in den gängigen Literaturgeschichten.Und doch: Einen Zugang zu Leonhards Werk findetman heute noch leicht. Einige seiner Gedichtestehen im Expressionismus-Dokument "Menschheitsdämmerung"- dort hat Kurt Pinthus auch das Zitat Leonhardsüberliefert.
Und Leonhards Leben? Der Autor Steffen Menschinghat den Rettungsanker geworfen. Er editierteein wichtiges Manuskript Leonhards unter demTitel "In derselben Nacht", das sich seit1986 frei zugänglich in der Akademie der Künstezu Berlin befand und doch keinen so richtigbeschäftigte. Es ist ein Traumtagebuch, inder französischen Lagerhaft in Le Vernet undCastres in den Jahren von 1941 bis 1944 entstanden,in die der Exilant als "unerwünschter Ausländer"verbracht wurde. Leonhard hat penible Traumprotokolleangefertigt, die surreale und sehr offenherzigeEinblicke geben in seine Biografie und seinePersönlichkeit: Wichtige Stationen flackernauf - die Heimatstadt Lissa (heute Leszno,Polen), die Berliner Bohème, das französischeExil. Freundschaften werden deutllich - Hasenclever,Toller, Piscator. Und: Vorlieben, Erotisches,Ängste, Albdrücke - in Nebensätzen begegnetauch der Haftalltag.
Besteht Interesse? Das Dilemma setzt sichfort. Zumindest schien es so am Dienstagabendin Halle. Mensching, der im Studentenklub"Turm" aus Leonhards Buch las, fand Zuhörer,die sich an einer Hand abzählen ließen. KeinStudent war darunter und auch kein Dozentder Alma mater halensis.
Doch zurück zur Ausgangsfrage: Wer war Leonhard?Im "Traumbuch" ist es fassbar, doch ob desMaterials schemenhaft und unwirklich. Im Nachwortkonkretisiert Mensching die entrückte Gestaltdes Dichters. Ein Gratwanderer war er: GeborenerJude, überzeugter Kommunist, der sich in dieParteidisziplin fügte. Gleichzeitig Erotomaneund Hedonist, für den der lebenslange Spagatzwischen Revolution und Dekadenz immer wiederschmerzhaft verläuft.
Eine Außenseiterexistenz führt Leonhard auchnach seiner Ansiedlung in der DDR: enge KPD-Freunde,wie Franz Dahlem, werden denunziert, ins politischeAbseits gedrängt - Leonhard wird selbst verdächtigt.Sein Auftritt im Osten ist kurz, im Westenwird er übersehen. Möge sich das ändern.
Rudolf Leonhard: "In derselben Nacht.Das Traumbuch des Exils"; Aufbau-Verlag Berlin2001; 527Seiten; 49,90Mark.