Roman Roman: «Tokio» erinnert an das Massaker von Nanking
München/dpa. - Und dennoch unterscheidet sich dieses Werk von den früheren: Hier nämlich verfolgt Hayder das Ziel, eines der entsetzlichen Kapitel der Geschichte - das Massaker, das die japanischen Besatzer 1937 im chinesischen Nanking angerichtet haben - in die Erinnerung zurück zu rufen.
Auf zwei Erzählebenen entwickelt die Bestsellerautorin ihre Geschichte, in deren Mittelpunkt die Frage steht, ob sich Vergangenheit im Privaten ebenso wie im historischen Kontext bewältigen lässt. Besondere Brisanz erhält das Buch durch die Tatsache, dass die massenhafte Folterung und Tötung chinesischer Zivilisten durch die japanische Armee im Land der aufgehenden Sonne lange ein Tabuthema war. Ihr sei es nicht um generelle Schuldzuweisung gegangen, sondern um die Verantwortung des einzelnen für Taten seiner Nation, bemerkte die Engländerin jüngst in einem japanischen Interview.
Literarische Hauptfigur dieses Romans ist der Chinese Shi Chongming, einer der wenigen Überlebenden des Massakers, der nun im hohen Alter an der Universität Tokio lehrt. Voller Abwehr reagiert er, als eines Tages die Studentin Grey zu ihm kommt und ihn drängt, einen verschollenen Film heraus zu geben, der die Gräuel des Winters 1937 festgehalten hat.
Erst als ihm zu Ohren kommt, dass Grey als Hostess in einem exklusiven Nachtclub arbeitet und dabei den gefürchteten Boss eines Verbrecherkartells Fuyuki näher kennen gelernt hat, wird Shi zugänglicher. Er bietet Grey einen Handel an: Wenn es ihr gelingt, Fuyuki ein geheimnisvolles Mittel zu entwenden, in dessen Besitz dieser zu sein scheint, verspricht er, ihr den Film zu geben. Die junge Frau lässt sich auf das Geschäft ein, nicht wissend, dass sie sich selbst in tödliche Gefahr bringt.
Diese Handlungsebene wird immer wieder unterbrochen von Passagen des Tagebuchs, das Shi als junger Mann während der japanischen Invasion in Nanking verfasst hat. Als Leser ist es kaum möglich, sich von der Angst zu distanzieren, in der er damals lebte.
Erst am Ende werden die verschiedenen Handlungsfäden - die früheren Schreckensmonate in Nanking ebenso wie Greys Abtauchen in die moderne Unterwelt Tokios - zu einem Muster zusammen gefügt und das Rätsel gelöst, wie Shi damals entkommen ist und warum Grey so versessen nach dem historischen Film sucht. Zurück bleibt ein wegen der drastischen Darstellungen schockierter, angesichts der sehr authentischen Erzählgabe der Autorin beeindruckter und - dies vor allem - ein zutiefst erschütterter Leser.
Mo Hayder
Tokio
Goldmann Verlag, München
415 S., Euro 19,90
ISBN 3-442-31018-0