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Roman "Der Diversant" Roman "Der Diversant" von Andree Hesse: Der Hornochse mit der Familiengeschichte in Sachsen-Anhalt

Von Steffen Könau 07.05.2017, 08:00
Einmal illegal über die Grenze nach Westen, nach einem Monat dann wieder illegal zurück in die DDR - Andree Hesses Antiheld „Meiner“ überwindet den Eisernen Vorhang gleich zweimal und landet am Ende als „Diversant“ im Zuchthaus.
Einmal illegal über die Grenze nach Westen, nach einem Monat dann wieder illegal zurück in die DDR - Andree Hesses Antiheld „Meiner“ überwindet den Eisernen Vorhang gleich zweimal und landet am Ende als „Diversant“ im Zuchthaus. dpa

Sachsen-Anhalt/Niedersachsen - Es ist eine Geschichte zwischen wahr und wahrscheinlich, unglaublich und unglaubwürdig, die Andree Hesse erzählt. Sie spielt in der Industrielandschaft südlich von Halle, zwischen Döllnitz und Buna-Werk, aber auch im Harz bis hinüber nach Niedersachsen, wo Andree Hesse herkommt.

Es ist die Lebensgeschichte eines Mannes, der hier immer nur „Meiner“ heißt, ganz weich gesprochen im Idiom einer Region, die ihr Herz für gewöhnlich nicht auf der Zunge trägt.

Der Mann, der später „Der Diversant“ (Buchtitel) sein wird, ist ein Junge vom Dorf, ein Junge aus dem Osten, der seinem im Westen aufgewachsenen Neffen sein Leben erzählt.

Roman „Der Diversant“ von Andree Hesse: Harte Zeiten in der Kindheit

Keines, das aus Heldentaten besteht. Sondern im Gegenteil. Meiner, geboren als Enkel eines Zugezogenen, ist ein Mann, den die Zeit zerreibt. Der Vater ist im Krieg und kommt mit einer Delle am Kopf zurück, glücklich, überhaupt noch da zu sein. Frau und Kinder sind weniger zufrieden, denn der Kopfschuss lässt den Vater Teller durch die Zimmer werfen, brüllen und zuschlagen.

Harte Zeiten, die diejenigen hart machen, die in ihnen leben müssen. Es kommen Flüchtlinge, dann kommen die Amis und sie bringen Schokolade. Ihnen folgen die Russen, aber denen „ist verboten, mit der Bevölkerung zu sprechen“.

Es geht nie um etwas Großes, um Träume, Ideale oder Ziele. Sondern einzig darum, irgendwie durchzukommen bis zum nächsten Tag, der nächsten Woche.

Roman „Der Diversant“ von Andree Hesse: Jahre voller endloser Arbeit

Die Welt hier zwischen Stadt, Land und Fabrik ist klein, die Perspektive derer, die hier leben, gleich der von Fröschen, die nicht über das Gras hinausschauen können.

Andree Hesse lässt seinen Protagonisten für sich selbst sprechen, seine Erzählung ist kaum ausgeschmückt, die Jahreszeiten vergehen und aus Sommern, die anfangs noch kaum enden wollen, werden Jahre, die nur aus Arbeit bestehen.

Es sind die 50er, der Vater verlässt die Familie, die Mutter findet einen neuen Mann, der ihre Kinder hasst. Meiner fährt ins Ferienlager, eine Reise wie zum Mond. Der Teenager singt das Trompeterlied am Lagerfeuer und er findet es „erhebend“, mit all den anderen zusammen wie eins zu sein.

Roman „Der Diversant“ von Andree Hesse: Meiner macht, was man ihm sagt

Der Junge, im Dorf so allein wie in seiner Familie, sucht nun für immer danach. Er geht zum Schulchor, zum Kanuklub, zur Freiwilligen Feuerwehr. Er wächst heran zu einem Mann, der gelenkt und geleitet werden möchte, der tut, was man ihm sagt.

Als sein Stiefvater ihn bei der Schule abmeldet und als Lehrjungen nach Buna schickt, in das Werk, das wie ein Schicksalszeichen am Horizont steht, wann immer Meiner nach oben schaut, protestiert er nicht. So ist es eben. Was kann ein kleiner Mann anderes tun, als auf seine Vorgesetzten zu hören?

Meiner rudert, wenn er muss. Er singt, wenn er soll. Er spielt die Schalmei. Erledigt die dreckigste Arbeit, vergiftet sich und ist dankbar, dass er zeitweise auf einem Gut schuften darf. Ein bisschen Liebe kommt dazwischen. Aber sehr wenig und sehr kurz.

Roman „Der Diversant“ von Andree Hesse: Meiner befreit sich als DDR-Soldat

So einer wie Meiner lässt sich sogar dorthin schubsen und lenken, wo er selbst gar nicht hinwill. Meiner, der sich im Rückblick auf sein Leben einen „Hornochsen“ nennt, versucht ständig auszuweichen, anderen aus dem Weg zu gehen und für sich einen eigenen zu finden. Stattdessen aber steckt er plötzlich freiwillig in einer Uniform, er ist ein Soldat, der die Grenzen der jungen DDR bewachen soll.

Als stünde ihm auf die Stirn geschrieben, was er für einer ist, bleibt der beste Schütze seiner Einheit Zielscheibe von Nachstellungen, die heute Mobbing heißen würden.

Und zum ersten Mal im Leben schluckt und duldet er nicht mehr, sondern er wehrt sich nach dem Muster, das sein ganzes Leben bestimmt hat: Bei einem Patrouillengang stellt Meiner seinen Karabiner an einen Baum, als seine Kameraden Zigarettenpause machen. Dann läuft er querfeldein über Gräben und ein Moor, durch die Aue und unter dem Stacheldraht entlang in die grenzenlose Freiheit des Westens.

Roman „Der Diversant“ von Andree Hesse: Meiner scheint nicht zu lernen

Ein Ausbruch, der nicht gutgehen kann. Denn auch dort, wo Vater und Brüder auf ihn warten, wartet nicht das Glück, sondern das grausige Gefühl, dass alles falsch läuft.

Andree Hesse erspart dem Leser nichts. Sein Drama ist eigentlich eine Tragödie, die Geschichte eines Scheiterns und die Geschichte eines Stoikers, der nicht zu lernen scheint, so oft er es auch versucht.

Nach einem Monat schleicht sich Hesses Meiner erneut über die Grenze, zurück in den Osten, wo eine Freundin wartet, aber dann doch die Handschellen klicken.

Roman „Der Diversant“ von Andree Hesse: „Das war alles reine Dummheit“

Einzelhaft, Schauprozess. Militärgefängnisse und Stasiknäste. Der Junge, der nur nach einem Platz im Leben sucht, ist auf einmal, was er nie war: „Der Diversant“, eine Waffe des Klassenfeindes.

Sein Urteil lautet auf vier Jahre und drei Monate Zuchthaus. Danach Arbeitsplatzbindung im Buna-Werk und immer ackern, ackern, ackern, wie er selbst sagt. „Das war alles reine Dummheit“, glaubt er heute. (mz)

››Andree Hesse: Der Diversant. Berlin Verlag, 240 Seiten, 20 Euro