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Roger Willemsen Roger Willemsen: Letztes Buchprojekt des verstorbenen Bestsellerautors

Von Christian Eger 02.02.2017, 13:53
Eine Zukunftsrede ist sein Vermächtnis: Roger Willemsen blickt noch einmal zurück.
Eine Zukunftsrede ist sein Vermächtnis: Roger Willemsen blickt noch einmal zurück. dpa

Halle (Saale) - Die Wissenschaft weiß das: Das Zeigen ist ein symbolisches Greifen. Wir kennen das von Denkmälern. Gern geht der Arm einer als wichtig ausgestellten Figur nach oben, zur Seite oder geradeaus. Auf Politikerfotos spielt sich dasselbe ab. Die Hände müssen mit ins Bild, die irgendwohin weisen oder etwas umspielen müssen. Hier geht es um das Behaupten von Handlungskompetenz. Das Problem ist nur: Wenn es ernst wird, greifen die „Zeiger“ oft daneben.

Roger Willemsen zitiert in seiner letzten Schrift einige der besten Zukunftsprognosen, Klassiker der Inkompetenz-Kompetenz. Kaiser Wilhelm  II. im Jahr 1904: „Das Auto hat keine Zukunft. Ich setze auf das Pferd.“ Der französische Militärstratege Ferdinand Foch 1911: „Flugzeuge sind interessant, haben aber keinerlei militärischen Wert.“ Oder der amerikanische Computer-Pionier Ken Olsen 1977: „Das Internet wird wie eine spektakuläre Supernova im Jahr 1996 in einem katastrophalen Kollaps untergehen.“

Roger Willemsens letztes Wort vor Publikum

Interessanter als die Frage nach der Zukunft, in die nicht einmal ein Kaiser blicken kann, wäre um der Zukunft willen die Frage nach einer Gegenwart, die solche Unsinnsurteile befördert. Es ist die Frage nach dem Nicht-Wissen, das sich als Auskennertum verkleidet. Nicht: Wer werden wir sein?, wäre zu klären. Sondern: Wer sind wir? Wir, die so effektvoll falsch liegen.

Das waren die Fragen des Roger Willemsen, der am 7. Februar vor einem Jahr mit 60 Jahren gestorben ist. Fragen, die den öffentlichen Intellektuellen umtrieben bis zuletzt. Ende Juli 2015 hielt der Autor und Fernsehmoderator im Rahmen der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern eine „Zukunftsrede“. Kurz darauf erfuhr der Kölner von seiner Krebserkrankung und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück.

Die Rede war Willemsens letztes Wort vor Publikum. Es enthielt den Kern des Buches, das er nach seinem Bestseller „Das hohe Haus. Ein Jahr im Parlament“ veröffentlichen wollte. Es sollte „Wer wir waren“ heißen und unsere Gegenwart von der Zukunft her betrachten. Das Buch, das jetzt diesen Titel trägt, ist ein Buch, das es eigentlich gar nicht gibt - von Herausgeberin Insa Wilke aus drei Fassungen der „Zukunftsrede“ zusammengestellt.

„Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden ..“

Aber wie liest man der Gesellschaft die Leviten, ohne aufdringlich zu leitartikeln? Willemsen startet filmreif. Er beschreibt, wie sich vor etwa fünf Millionen Jahren die Hominiden, die menschenartigen Affen, von den afrikanischen Affen trennten.

Wie sie aus den Bäumen herab auf den Boden fielen, wo sie das Laufen lernten. Unter anderem der eine, der in einer Höhle in „Ötzi“-Haltung überliefert wurde. In diesem Todesschläfer erkennt Willemsen „den letzten kompletten Menschen“. Denn nach den Hominiden begann die Krise, die heute die Krise des Homo sapiens sei. „Wenn man es genau bedenkt, ist vom Anfang aller Tage an alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, der Zusammenhalt unter den Menschen, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten.“

Bei Willemsen liefert die Ironie den Süßstoff, um die Befunde zu schlucken, die er im Stakkato liefert. Die „flache Aufmerksamkeit“, die um sich greife, das Aufsplitten des Subjekts in Filial-Existenzen, die Zukunft als Zerrbild aus einem deformierten Bewusstsein, das Tatsachen nicht mehr als Tatsachen zu lesen weiß, sondern sich gezielt von Lügen ernährt. Wer wir waren? „Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, die begriffen, aber sich nicht vergegenwärtigen konnten, voller Information, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, nicht aufgehalten von uns selbst.“

Das ist eine zupackende, aber keine neue Kulturkritik. Aber Willemsens Schrift ist ja auch kein Buch, sondern ein Büchlein, ein Essay von 64 Seiten. Wichtiger als die Redseligkeit ist die Klarheit, Originalität und intellektuelle Überraschungskunst, die Willemsens Rede bietet. Und das Rezept, das er den Menschen ausstellt: Geduld zeigen, nicht jedem Impuls folgen, sich gegen die Entzivilisierung sperren, die mit der geforderten technischen All-Verfügbarkeit des Einzelnen einhergehe. Statt dessen empfiehlt er die Pflege einer „kontinuierlichen Persönlichkeit“, die sich durch die Fähigkeit auszeichne, „bei sich zu bleiben, folgerichtig zu sein, konsequent.“ Bei Nichtwissen die Klappe zu halten. Nicht vorzupreschen, sondern das Betrachten, Staunen, Versenken zu üben. Eigenschaften, die die Auftritte des Roger Willemsen unvergesslich machten. Insofern ist dieses Büchlein, tatsächlich, ein Vermächtnis.  (mz)