Rock'n'Roll statt Rente Rock'n'Roll statt Rente: Wenn Rockmusiker weiter auftreten statt in Ruhestand zu gehen

Halle (Saale) - Vermutlich hat Mark Daniel als Kultur- und Lokalredakteur der Leipziger Volkszeitung einiges durch. Dass er sich aber überdies noch einer seltsamen Passion hingibt, war nicht unbedingt zu erwarten. Nun ist es raus, denn ein ganzes Buch lang füllt er freimütig mit Erlebnisberichten darüber. Allein wäre das alles schwer zu genießen, deswegen hat er dabei seinen Kumpel Hümmi an der Seite.
Wie Mark Daniel ist der aus dem Ruhrgebiet „Anfang der Neunziger nach Leipzig rübergemacht“. Hümmi ist Schalke-Fan und also Kummer gewohnt. Er besitzt einen übernachtungstauglichen Volkswagen T3 vom Baujahr 1987, den er als passionierter Schrauber einigermaßen in Form hält, ordentliche Trinkfestigkeit sowie die Fähigkeit, sich leidenschaftlich auf eine frühere Entwicklungsstufe zurückzubeamen.
Das Motiv für ihre gemeinsamen Abwege bringt Hümmi, der ohnehin nicht über die Fähigkeit gebietet, Sätze mit Kommas zu bilden, auf den Punkt: „Irgendwann sind se alle wech.“
Wenn alte Rockmusiker zu „freundlichen Karpfen“ werden
Alle, das sind die Helden der Jugend. Ordentlich in die Jahre und aus der Form gekommene Gitarristen und Sänger, die längst die Grenze zum Windschnittigen überschritten haben, wenn sie über die Dörfer ziehen.
Man stelle sich einmal vor, was es mit dem Menschen macht, wenn einer wie zum Beispiel Uriah-Heep-Frontmann Bernie Shaw inzwischen mit Kullerbauch und immer noch in unterirdischem Outfit alle Abende eine identische Fassung von „Lady in Black“ hinsimpeln muss.
Im besten Falle werden sie zu „freundlichen Karpfen“, wie Christoph Dieckmann das einmal nannte. Wenn hier also zwei dem guten alten Rock’n’Roll hinterherreisen, liegt die Betonung auf beiden Attributen. Man kann sich seine Passionen nicht aussuchen.
Rockmusik statt Rente: Alte Musiker sind Konstanten für regelmäßiges Bad in Wohligkeit und Nostalgie
Damit Mark Daniel den fürs spätere Aufschreiben nötigen Überblick nicht verliert, trägt er im Konzert Ohrstöpsel und trinkt auch mal alkoholfreies Bier. Mit Blick zur Bühne denkt er: „Ich hingegen bin ja noch jung.“
Immerhin, zwischen den Jugendzimmerhelden und heute liegen für ihn „Mauerfall, Klimawandel, zwei Kinder, eine Scheidung und unzählige Zeitgeister“.
Da ist es doch gut, wenn es Konstanten gibt für ein regelmäßiges Bad in Wohligkeit und Nostalgie. Also rein ins dem jeweiligen Anlass entsprechende Fanshirt und der eigenen labyrinthischen Geschmacksverirrung hinterher in überschaubare Läden nach Schwalmstadt in Hessen, ins Vogtland, an den Brombachsee nach Bayern oder zum Bikerfest in Emmenrausch. Entlegene Orte, für deren Erreichbarkeit es einer ausgeklügelten Logistik bedarf, die mit den Jahren perfekt geworden ist.
Alte Rockmusiker treten weiter auf: Nichts ist schlimmer als Sitzkonzerte
Das braucht Idealismus, der auch diese Konzertveranstalter in der Provinz antreibt. Dort kann man dann in einem seligen Gestern nachpubertieren angesichts von Ritchie Blackmore, Saga, Spencer Davis, Bay City Rollers, Kiss, The Sweet, Jethro Tull, Suzi Quatro oder Alice Cooper, wobei sich die Zahl der Originalmitglieder der jeweiligen Band in der Regel oft dem Lauf der Natur folgend auf ein Minimum reduziert hat. Manchmal hat es sich auch ganz erledigt. Dann muss man sich halt im Kino ein letztes Nachbeben gönnen.
Man kann feiern, tanzen, röhren, trinken und die Welt vergessen inmitten von die Luftgitarren bedienenden „Kleiderschränken aus Jeans und schwarzem Leder“ und Kräuterlikör-Pullen wie Patronen im Gurt. Daneben in die Jahre gekommenen Musen wie Sabine aus Werdau mit dem Jon-Lord-Tattoo, die auch dann noch headbangend an der Bühne ausharrt, nachdem ihr ein Bierwagen die Fersen blutig gefahren hat.
Die Idee verlangt Opfer, doch nichts ist schlimmer als Sitzkonzerte, auf denen wie bei Chris de Burgh Leute hocken, die bei Flugzeuglandungen klatschen und deren Name auf Kaffeetassen steht.
Rock'n'Roll statt Rente: Leipziger beschreibt den Fluch und Segen des Nach-Hause-Kommens
Mark Daniel erzählt bekenntnishaft, geständig und von innen heraus von Fluch und Segen seines obsessiven Nach-Hause-Kommens ins Jugendzimmer, wo ihm die Gänsehaut wächst in rustikaler Betäubung.
Und er hat auch so manche neckische Beobachtung und Episode parat, etwa über die der Bässe wegen in hintere Reihen verbannten Männer mit Stents und über Fluch und Segen von Coverbands.
Oder darüber, wie Hümmi endlich einmal sprachlos war, nachdem er als ältester Praktikant in der Geschichte der Leipziger Volkszeitung dem netten, alten, behausschuhten Ian Gillan im Hotel leibhaftig gegenübergesessen hatte.
››Mark Daniel: „Rock’n’Roll 4evermore (hier bei Amazon kaufen). Irre Trips zu alten Helden“, Eulenspiegel Verlag Berlin, 192 Seiten, 14,99 Euro (mz)
