20. Todesjahr Rio Reiser: König ohne Thron

Halle (Saale) - Zuerst zog er immer die Schuhe aus. Konnte kommen, was wollte, lass das Publikum toben oder schimpfen - Rio Reiser setzte sich in aller Ruhe, schlüpfte aus den Slippern und zerrte sich die Socken von den Füßen.
Ein Ritual vor jedem Konzert. Ralf Möbius, wie Rio Reiser eigentlich hieß, mochte es, barfuß auf der Bühne zu stehen. Ganz egal, ob die im Hinterhof eines besetzten Hauses Mitte der 70er, in den 80ern in der ausverkauften Seelenbinderhalle in Berlin/DDR oder Mitte der 90er in der kaum mehr halb gefüllten „Schorre“ in Halle stand. Rio Reiser machte sich nackt. Danach erst ein schüchternes Hallo. Und der erste Song des Mannes, der nur drei Monate nach seinem Auftritt in Halle 1996 an Kreislaufversagen aufgrund innerer Blutungen sterben würde: „Alles was ich sagen kann / ist schon längst gesagt“, singt er, und „ich seh’ eine Chance vor dem großen Krach: Liebe, Liebe, Liebe - oder gute Nacht“.
In jenem Sommer vor 20 Jahren steht Rio Reiser am Tiefpunkt seiner Karriere. Sechs Jahre ist er nicht mehr auf Tour gewesen, „Himmel und Hölle“, das aktuelle Album, ist sein erstes, das es nicht in die Hitparade schafft. Der 46-Jährige, ein Jahrzehnt zuvor mit dem Lied „König von Deutschland“ furios aus dem Ghetto der alternativen Rockmusik ausgebrochen, in dem er seit der Gründung der Band Ton Steine Scherben gelebt hatte, hadert mit Erfolg und Misserfolg gleichermaßen.
Reiser, aufgewachsen als Sohn eines Siemens-Ingenieurs, der fortwährend versetzt wurde, fühlt sich missverstanden. Sowenig ihm gefallen hatte, dass die Scherben es nie geschafft hatten, Anerkennung beim Mainstream-Publikum zu finden, so wenig gefällt es ihm nun, die Rolle als König von Deutschland zu spielen. Er will nicht der Narr sein, der auf Bestellung singt. „Ich möchte mich nicht fangen lassen und wie Peter Maffay immer wieder dieselbe Platte machen“, sagt er, „ich könnte so nicht leben“.
Lieber komponiert Reiser die Musik zu einem Theaterstück, er spielt 1995 die Hauptrolle in einem Münchner „Tatort“, macht ein Musical, verfasst eine frühe Autobiografie und produziert daheim auf seinem Bauernhof im norddeutschen Fresenhagen Platten von Freunden wie dem ostdeutschen Gitarristen Lutz Kerschowski. Vielbeschäftigt, aber unzufrieden, hadert das Jahrhunderttalent mit den Umständen. Er, der mit den Scherben schon 1970 den Rocksong „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ eingespielt hat, zahlt immer noch am Schuldenberg ab, den die Bürgerschreck-Kapelle hinterlassen hat. Und Lindenberg, Maffay oder Westernhagen, die lange nach ihm kamen, treten in ausverkauften Stadien auf. Reiser pflegte seinen Trotz: „Wenn es nur noch darum geht, Geld zu verdienen, dann ist mir das zu blöde“, sagte er, „auch wenn alle denken, Geld ist das Ziel - das ist nicht wahr.“
Ihm selbst jedenfalls ging es nie darum. Als der jüngste Sohn der Familie Möbius zusammen mit seinen älteren Brüdern aus der Provinz auszog, um draußen in der Welt Theater, Musik oder irgendetwas dazwischen zu machen, brach in der alten Bundesrepublik gerade 1968 aus. Alles sollte anders werden, alle wollten anders leben. Reiser, der sich nach einem Roman des Sturm-und-Drang-Dichters Karl Philipp Moritz benannte, obwohl er das Buch nie gelesen hatte, macht ernst. Er lebt in Kommunen, die Band ist seine Familie, die ersten Platten tragen Namen wie „Warum geht es mir so dreckig“ und „Keine Macht für Niemand“ und die Bandmitglieder kleben die Cover selbst zusammen. Die Studentenbewegung vereinnahmt die rebellische Gruppe als Aushängeschild, obwohl die Musiker sich selbst als proletarisches Gegenstück zum intellektuellen Revoluzzertum der Uni-Linken sieht. „Wir haben das gehasst wie die Pest“, formuliert Rio Reiser später.
Entkommen aber können sie ihnen nicht. Anderthalb Jahrzehnte lang sind die Scherben die Band der Bewegung. Dann ist die Bewegung am Ende. Und die Band ist es auch. Ein sechsstelliger Schuldenberg ist übrig, den Rio Reiser allein abtragen wird, mit dem Geld, das seine Solo-Hits „Blinder Passagier“, „Lass uns ein Wunder sein“ oder „Junimond“ einspielen. Ein Jahr vor seinem Tod hat er es endlich geschafft. „Und die alten Platten“, sagte er erleichtert, „bringen inzwischen auch etwas ein.“ Links war er geblieben, ein Querkopf aber auch. Rio Reiser tritt in die PDS ein und als ein Branchen-Insider ihn warnt, dass das seiner Karriere schaden könne, singt er gleich auch noch für deren Wahlkampf. Er trinkt viel und kifft. Er ist himmelhochjauchzend, wenn er frisch verliebt ist. Und dann wieder zu Tode betrübt, weil er in jeder Liebe die Möglichkeit sieht, sie wieder zu verlieren.
„Durch die Wand“ nennt er ein Album, „Himmel und Hölle“ ein anderes, auf dem er singt: „Nehmt mir die Krone ab, die mich erdrückt, nehmt mir die Krone weg, nehmt sie zurück“. Am frühen Abend des 20. August 1996, auf den Tag genau 26 Jahre nach den Studioaufnahmen zu „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“, gingen sein Bruder Peter und er mit dem Hund spazieren. „Anschließend wollten wir noch Tee trinken“, erinnert sich Peter Möbius. Doch als er ins Zimmer kam, findet er Rio leblos auf der Couch. Die Wiederbelebungsversuche eines Notarztes bleiben ergebnislos. Rio Reiser stirbt mit nur 46 Jahren. (mz)