Regierungsbeauftragter erzählt Regierungsbeauftragter erzählt: Wie die DDR Technologie-Weltmacht werden sollte

Halle (Saale) - Die DDR hat den größten Chip der Welt entwickelt. Der Kalauer – der damit spielt, dass es sich eben um den größten und nicht um den kleinsten Speicher handelt – machte im Arbeiter- und Bauernstaat die Runde, nachdem Staatschef Erich Honecker im September 1988 in Berlin feierlich der erste Ein-Megabit-Chip überreicht worden war. Verantwortlich für die Entwicklung des Bauteils war Karl Nendel, der DDR-Regierungsbeauftragte für Mikroelektronik. Ein Foto zeigt ihn zusammen mit Honecker und Günter Mittag bei der Präsentation des Speichers für das Zentralkomitee der SED.
In seiner Autobiografie „General der Mikroelektronik“ nimmt das Thema des Ein-Megabit-Chips einen breiten Raum ein. Nendel, der 1933 im sächsischen Falkenau geboren wurde, hat bis 1989 eine für viele hochrangige DDR-Funktionäre typische Karriere absolviert: Als Sohn eines Arbeiters lernte er den Beruf des Elektrikers, studierte und wurde nach mehreren Stationen in leitender Funktion nach Ost-Berlin delegiert. Die Ernennung zum Regierungsbeauftragten für Mikroelektronik im Jahr 1977 war für den ehrgeizigen, in Treue zum Land und zur SED stehenden Nendel der Ritterschlag.
Mikroelektronik in der DDR: MfS beschaffte Unterlagen
Auch wenn der internationalen Öffentlichkeit vorgemacht werden sollte, dass es sich beim Ein-Megabit-Chip um ein Spitzenprodukt der DDR-Forschung handelte, war er doch vor allem das Ergebnis intensiver Wirtschaftsspionage, die die Sektion Wissenschaft und Technik der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) im Ministerium für Staatssicherheit betrieb. Das Ziel: Die DDR sollte auf Biegen und Brechen zu einem weltweit führenden Land der Mikrotechnologie werden.
Man möchte Nendel gern glauben, dass er seinen Vorgesetzten nicht begreifbar machen konnte, dass dieses Ziel sowohl technologisch als auch finanziell vollkommen unrealistisch war. Nendels Bedenken habe jedoch etwa Günter Mittag, seit 1976 ZK-Sekretär der SED für Wirtschaftsfragen, gewöhnlich mit dem Hinweis vom Tisch gewischt, dass es sich sicher nur um technische Details handle, die zu lösen seien.
Doch das Projekt erwies sich als entschieden zu groß. „Die Maschinen, die zur Serienproduktion des Chips benötigt worden wären, hätten weder aus eigener Kraft gebaut, noch in diesem Umfang aus dem Westen beschafft werden können“, lautet Nendels Fazit. Dass kein Offenbarungseid geleistet werden musste, ist allein der Geschichte zu danken: Mit der Wende von 1989 wurde das Vorhaben zu den Akten gelegt.
Bis dahin hat man aber mit Feuereifer an dem Prestige-Projekt gewerkelt. Mehrere Milliarden DDR-Mark und Abermillionen Valuta-Mark wurden investiert. „Wir hatten den Ehrgeiz, an der Weltspitze mitzuspielen, auch wenn es - wie sich später herausstellte - Illusion war“, schreibt Nendel. Ähnlich wie im Sport, wo die DDR in vielen Disziplinen nur dank Staatsdopings Weltspitze war, kam man im Honecker-Staat auch bei der Entwicklung von Mikrotechnologie nicht ohne verbotene Hilfe aus.
Da die Entwicklung von Mikrospeichern und -prozessoren allein von der DDR nicht gestemmt werden konnte, wurde kurzerhand das Wissen der großen Mikrotechnologie-Unternehmen in den USA, Japan und der Bundesrepublik abgegriffen: Die Stasi-Mitarbeiter der HVA besorgten sowohl relevante Baupläne als auch die entsprechende Technik zur Herstellung von mikroelektronischen Bauelementen unter Umgehung des westlichen Embargos. Produkte, die dem unterlagen, mussten über Mittelsmänner zu überhöhten Preisen beschafft werden. Die dafür notwendigen D-Mark und Dollars hatte jener Manager zur Verfügung zu stellen, der die DDR finanziell zusammenhielt: Alexander Schalck-Golodkowski (1932-2015). „Er war in solchen Fällen der einzige, der Geld beschaffen konnte.“ Woher der Chef der Kommerziellen Koordinierung die Valuta-Millionen nahm, hat Nendel – aus Selbstschutz – so wenig interessiert wie die Art und Weise, wie die Technik, die man für die Chip-Herstellung benötigte, in die DDR geschleust wurde.
Herstellung in der DDR: Kein Bedarf für den Chip
„Etwa 70 Prozent der Anlagen für die Pilotfertigung des 1-MB-Chips bekamen wir durch Umgehung des Embargos aus dem Westen“, wird Jens Knobloch in Nendels Buch zitiert. Der einstige Chefkonstrukteur des Ein-Megabit-Chips weiß auch zu berichten, dass die erzwungene Entwicklung des elektronischen Bauteils im Grunde überflüssig war: „Für einen 1-MB-Chip gab es zu diesem Zeitpunkt weder in der DDR noch in den anderen sozialistischen Ländern größeren Bedarf.“
››Karl Nendel: „General der Mikroelektronik“, Rohnstock, 234 S, 19,99 Euro
(mz)