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Publizist und Philologe Publizist und Philologe: Walter Jens im Alter von 90 Jahren gestorben

Von Christian Eger 10.06.2013, 08:58
Der Wissenschaftler und Autor Walter Jens
Der Wissenschaftler und Autor Walter Jens Archiv/dpa Lizenz

Halle/MZ - „Keine Reisen in ferne Länder, sondern immer nur in die DDR“, notiert Inge Jens 1979 in ihr Tagebuch. Die Tübinger Germanistin entdeckt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller und Rhetorik-Professor Walter Jens, den nahen fernen, nämlich mitteldeutschen Osten. „Wo gab es interessantere Leute?“, schreibt Inge Jens. Und sie meint die protestantischen Pfarrer in der DDR. Den Rektor des Kirchlichen Proseminars Naumburg, Reiner Bohley. Und den Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer.

Wo gab es Menschen, die interessierter gewesen wären an einem Auftritt von Walter Jens? Wo, wenn nicht im geistig hungrigen Osten? In Naumburg, Wittenberg oder Halle? Dort trat Walter Jens, der linksliberale Kanzelredner der Bundesrepublik, im November 1983 vor das Ostvolk. Im Zuge der Friedensdekade sprach der damals 60-Jährige in der halleschen Moritzkirche über das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, erinnert sich Schorlemmer. „Doll überfüllt“ sei die Kirche gewesen, sagt der Theologe. „Walter Jens war ein Impulsgeber für die Studentengemeinden und die Jungen Gemeinden!“ Dessen auch in der DDR veröffentlichte Übertragung des Matthäus-Evangeliums sei ein wichtiger Text gewesen: „Am Anfang der Stall, am Ende der Galgen.“ Woran er gedacht habe, als er 1972 diesen Text übertrug, habe er von Jens einmal wissen wollen, sagt Schorlemmer. „Wissen Sie, was er geantwortet hat? Er habe an die Jungen Gemeinden in der DDR gedacht. 1972!“

Der hallesche Auftritt von Walter Jens endete in der Wohnung des mit Berufsverbot belegten Biochemikers Peter Bohley. Die Stasi war immer dabei, wie Bohley, der 1984 nach Tübingen ausreiste, in seinem Erinnerungsbuch „Sieben Brüder auf einer fliegenden Schildkröte“ schreibt. Vom „BRD-Bürger Jenz“ und von „Frau Jenz“ ist im Abhörprotokoll der Stasi die Rede.

Höchste Aufmerksamkeit für einen Mann, der zu den vergleichsweise wohlwollenden Kritikern des DDR-Systems gehörte, aber zu den berühmtesten nachkriegsdeutschen Intellektuellen. Dabei hatte der 1923 geborene Hamburger Bankierssohn eigentlich Strafverteidiger oder Prediger werden wollen. Aber nach dem Studium der Klassischen Philologie und Germanistik schlug er die akademische Laufbahn ein. 1947 begann er belletristisch zu schreiben, mit Achtungserfolgen für „Herr Meister“ und „Die Friedensfrau“. 1950 kam Jens nach Tübingen, wo er den Lehrstuhl für Rhetorik aufbaute.

Politisch wurde er eine Galionsfigur der Friedensbewegung, beteiligte sich 1984 an Sitzblockaden, versteckte gemeinsam mit seiner Frau während des Golfkriegs 1990 zwei desertierte US-Soldaten in seinem Tübinger Haus. Nicht immer war Jens auf der Höhe der Probleme, die er wortreich anpackte: Als er 1992 als Präsident der Westberliner Akademie der Künste deren Fusion mit der DDR-Akademie durchsetzte, blieb es ihm fremd, dass es auch gute, nämlich aus persönlicher DDR-Erfahrung gespeiste Gründe gegen die Maßnahme gab.

Dass Jens seine - tätige - Mitgliedschaft im Nationalsozialistischen Studentenbund (ein Vortrag über „entartete“ Literatur 1942) und eine 1942 eingetragene NSDAP-Mitgliedschaft vergessen oder verdrängt, jedenfalls nie thematisiert hatte, traf ihn 2003 als Makel. „Ich verstehe, dass viele von mir enttäuscht sind. Ein bisschen frühere Deutlichkeit, etwa am Ende der 50er und am Anfang der 60er Jahre, wäre um der umfassenden Redlichkeit willen angezeigt gewesen“, sagte er im Interview mit seinem Sohn, dem Journalisten Tilman Jens. Kurz darauf lässt ihn die Demenz verstummen. Tapfer und gar nicht öffentlichkeitsscheu betreut von seiner Ehefrau, ist Walter Jens am Sonntag im Alter von 90 Jahren in Tübingen gestorben.