Profit statt Gesundheit Profit statt Gesundheit: "Team Wallraff" deckt Missstände in Krankenhäusern auf

Halle (Saale) - In seiner neuen Investigativ-Reportage ist das „Team Wallraff“ zahlreichen Hinweisen von Krankenschwestern, Pflegern und Ärzten auf zum Teil katastrophale Bedingungen in deutschen Kliniken nachgegangen. Wie der Sender RTL mitteilte, recherchierten über einen Zeitraum von 14 Monaten der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff und die Reporterin Pia Osterhaus, die dazu undercover arbeitet, über die Zustände in deutschen Krankenhäusern. Aufgrund eines enormen Kostendrucks seitens der Klinik-Betreiber kommt es in vielen Bereichen zu Einsparungen, häufig mit gravierenden Folgen: Akuter Personalmangel, überlastetes Personal, bedenkliche Hygienebedingungen und sogar Leben gefährdende Engpässe in den Notfallaufnahmen - diese und andere Missstände müssen sowohl die Krankenschwestern, Ärzte und Pfleger als auch die Patienten ausbaden.
Wie lässt sich Kostendruck und Patienten zu dienen miteinander vereinbaren?
Für ihre Recherchen schlüpft die RTL-Reporterin Pia Osterhaus in drei verschiedenen Krankenhäusern in die Rolle einer Pflegepraktikantin. So will sie erfahren, wie sich der wachsende Kostendruck mit dem Kernauftrag von Kliniken - dem Wohle der Patienten zu dienen - vereinbaren lässt. Wo wird gespart und welche Folgen hat das für die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter einerseits und dem Wohl der Patienten andererseits?
Bei ihrem ersten Einsatz arbeitet sie in München als stationäre Pflegepraktikantin in einer chirurgischen Station des städtischen Klinikums Harlaching, das aufgrund großer finanzieller Probleme immer wieder in die Schlagzeilen gerät. Die Sanierungskonzepte sehen u. a. vor, dass in den nächsten Jahren 1.600 von 8.000 Stellen gestrichen werden sollen. Der Sparzwang macht sich für Pia Osterhaus in vielen Bereichen bemerkbar. Als ungelernte Praktikantin ohne Vorkenntnisse soll sie nach kurzer Einarbeitung manche Patienten allein versorgen. In dem Zeitraum, in dem sie ihr Praktikum macht, soll es laut Kollegen auch Mängel an medizinischen Instrumenten wie z. B. einigen Druckluftanschlüssen geben. Tatsächlich erfährt sie, dass bei einem jungen Lungen-Patienten die Absaugpumpe, die das Wundwasser absaugen soll, nicht richtig lief. Das kann unter anderem zu schweren Infektionen oder Lungenschäden führen. Immer wieder bekommt Pia Osterhaus zu hören, wie unzufrieden viele Schwestern und Pfleger mit ihren Arbeitsbedingungen sind. „Das ist wie Fließbandarbeit“, hört sie von einer Pflegerin, während eine andere klagt: „Wir sind überlastet. Es gibt Spannungen, jeden Moment kann es explodieren.“ Wie sich der aufgestaute Unmut über Dauerstress und permanente Unterbesetzung entladen kann, erlebt Pia Osterhaus, als eine Krankenschwester bei einem demenzkranken, älteren Herrn die Nerven bei der Morgenpflege verliert. „Ich fick dich, du Tauber!“, herrscht sie den Mann an, weil der nicht auf ihre Ansprache reagiert.
Über die Erlebnisse in den Dr. Horst Schmidt Kliniken in Wiesbaden und im Helios Klinikum Berlin Buch lesen Sie auf Seite 2.
Die Auswirkungen des Personalmangels auf die Pflege- und Versorgungsqualität bekommt die Undercover-Reporterin auch in den Dr. Horst Schmidt Kliniken in Wiesbaden zu spüren. Im Mai 2014 hat eines der größten privaten Unternehmen, die Helios Kliniken GmbH, fast die Hälfte des Krankenhauses übernommen. Insgesamt wurden schon über 300 Stellen abgebaut. Das Krankenhaus steht tief in den roten Zahlen und die Helios Kliniken GmbH will vor allem eins: Gewinn machen. Pia Osterhaus erlebt als unbezahlte Praktikantin in der Notaufnahme mehr als einmal, wie es bei der Aufnahme von Notfällen zu dramatischen Engpässen kommt.
Ein Pfleger kritisiert, dass sich der Klinik-Betreiber zu Tode spart. Für den Mai 2015 rechnet er bis zu 700 geplante Überstunden in der Notaufnahme vor, da sei das ein oder andere Burnout geradezu vorprogrammiert. Eine Mitarbeiterin des Hauses erklärt gegenüber Günter Wallraff, der Betrieb funktioniere nur, „indem wirklich über die Kraftreserven hinaus gearbeitet wird. Aber irgendwann ist damit Schluss. In unserer Klinik laufen wir gerade auf einen Kollaps zu. Wir sind am Ende.“ Von Januar bis Ende September 2015 gab es insgesamt 618 Überlastungsanzeigen von medizinischen Mitarbeitern in den Doktor Horst Schmidt Kliniken. Das heißt, dass die Ärzte und Pfleger 618 Mal den Eindruck hatten, ihre Patienten zu gefährden.
Verschmutzte Betten mit befleckten Laken
Dass Helios auch die Arbeitszeiten der externen Reinigungsfirma drastisch reduziert hat, wird für die RTL-Reporterin sichtbar: Der Boden auf den Gängen ist mitunter verdreckt, blutiges Arbeitsmaterial liegt teilweise auf dem Boden und oftmals stehen im Krankenhausflur vor der Notaufnahme, der für jeden öffentlich zugänglich ist, verschmutzte Betten mit befleckten Laken.
Bei ihrem dritten und letzten Undercover-Einsatz arbeitet Pia Osterhaus als Praktikantin auf einer Krebsstation im Helios Klinikum Berlin Buch. Hier erlebt sie u. a., wie Servicekräfte ohne Schutzkittel die Betten per Hand reinigen und später auch das Essen an die Patienten austeilen, in Kleidung, die genauso aussieht wie zuvor bei den Putzarbeiten. Und sie beobachtet, wie ein Patient mit einem multiresistenten Krankenhauskeim ohne Mundschutz und sonstige Schutzvorkehrungen auf der Station unterwegs ist und sich im Wartebereich zu Patienten setzt, die eine Chemotherapie bekommen.
Was Günter Wallraff und Pia Osterhaus über die Recherchen sagen, lesen Sie auf Seite 3.
Bei ihren Recherchen werden Pia Osterhaus und Günter Wallraff unterstützt von dem Wirtschaftswissenschaftler Professor Stefan Sell, dem deutschen Pflegeexperten Claus Fussek, dem Hygieneexperten Professor Walter Popp und der Gewerkschaft ver.di.
Zu allen Vorwürfen, die das städtische Klinikum Harlaching in München sowie die Helios Kliniken in Wiesbaden und Berlin betreffen, hat „Team Wallraff“ rechtzeitig und sehr detailliert um Stellungnahme gebeten, erhielt aber nur sehr allgemein gefasste kurze Antworten. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe stand für ein Gespräch mit „Team Wallraff“ aus terminlichen Gründen nicht zur Verfügung.
Verbindliche Quoten für Pflegekräfte
„Unsere Rechercheergebnisse sind beschämend für eine der immer noch reichsten Industrienationen der Welt. Es kann nicht sein, dass wegen des Profitstrebens börsennotierter Klinikbetreiber sowohl Patienten als auch Mitarbeiter die Leidtragenden sind. Die Politik ist aufgefordert, endlich verbindliche Quoten für Pflegekräfte einzuführen, bevor das System kollabiert.“, sagt Günter Wallraff zu den Ergebnissen der Recherchen.
Pia Osterhaus: „Ich hoffe, dass wir mit unseren Recherchen den Druck auf die Verantwortlichen erhöhen können, denn es muss alles getan werden für mehr Pflegepersonal auf den Stationen! Ich war z. B. mehrmals Zeugin, wie durch zu knappe Besetzung dramatische Engpässe in der Notaufnahme auftraten. Und ich habe immer wieder erlebt, dass durch den Personalnotstand neben Nachlässigkeiten bei der Hygiene etwas sehr Schwerwiegendes auf der Strecke bleibt: die Zuwendung für die Patienten. Die meisten Mitarbeiter können ihren eigenen Ansprüchen gar nicht mehr gerecht werden und müssen die Pflege aus Zeitgründen oft auf das medizinisch Notwendigste reduzieren. Trost und Beruhigung sind für die Genesung jedoch genauso wichtig wie eine gute medizinische Versorgung. Doch genau dafür scheint es in diesem System keinen Platz mehr zu geben.“ (mz)