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Trendwende im Pop Pop-Musik aus Deutschland hat das Radio erobert: Ein Siegeszug

Von Steffen Könau 03.02.2019, 11:00
Farina Meiners (29) aus Bremen ist Gründerin des Helene-Fischer-Fanclubs „Zuckerpuppen“ und hat ihr Idol schon rund 15 mal live gesehen: „Bei Helene bin ich zu Hause“, sagt sie über die erfolgreichste deutsche Sängerin.
Farina Meiners (29) aus Bremen ist Gründerin des Helene-Fischer-Fanclubs „Zuckerpuppen“ und hat ihr Idol schon rund 15 mal live gesehen: „Bei Helene bin ich zu Hause“, sagt sie über die erfolgreichste deutsche Sängerin. Schimkus

Sie waren 600 und sie hatten Angst. Angst um ihr Handwerkszeug, Angst vor einem Publikum, das immer schneller wegzulaufen schien, je eifriger sie ihm hinterherjagten. Es war dann der Deutschrocker Heinz Rudolf Kunze, der im Namen seiner singenden und textenden Kolleginnen und Kollegen nach staatlichen Eingriffen rief.

Angesichts der Flut schlecht gemachter ausländischer Musik, die das Programm der Radiosender überschwemmte, forderte der Poet unter den deutschsprachigen Stars Mitte der 90er Jahre eine Quote für deutsche Musik.

Eine Idee, die immer mal wieder aufkam, seit die Beatles zum ersten Mal „Yeah, yeah, yeah“ aus einem deutschen Radio jodelten. Weg mit der Übermacht der amerikanisch dominierten Kulturindustrie! Förderung des eigenen kulturellen Erbes! Mehr Chancen für den Nachwuchs, Verteidigung der Vielfalt, Besinnung auf die eigene Identität!, so lauteten die Begründungen dafür, es ähnlich zu machen wie die DDR, die ihren Künstlern und Medien ein Verhältnis von 60 zu 40 vorschrieb.

60 Prozent aller Lieder mussten von DDR-Komponisten stammen. Nur 40 Prozent durften aus dem westlichen Ausland entlehnt werden.

Pop-Musik-Quote für Deutschland? Campino war dagegen

Eine Vorschrift, die in der Praxis nie eingehalten wurde, den Gegnern einer Deutsch-Quote aber Munition lieferte, auf Kunze, Grönemeyer, Xavier Naidoo und die anderen Unterstützer der Idee zu schießen. „Wir brauchen keine Quote“, argumentierte Tote-Hosen-Sänger Campino, dessen Band trotz Radioboykott die größten Hallen füllte.

Auch Kunze ruderte zurück: „Das ist unsere Forderung für den Austritt aus der Nato“, sagte er zu den Erfolgsaussichten seiner Initiative, „man muss sie stellen, auch wenn klar ist, dass sie nicht umsetzbar sein wird.“

Aus einem knappen Vierteljahrhundert Abstand gesehen war sie es dann doch, wenn auch ganz anders, als Kunze und seine Unterstützer bis hin zum SPD-Politiker Wolfgang Thierse und der Grünen Antje Vollmer es damals dachten.

Siegeszug deutscher Popstars und Rapper

Denn obwohl keine Kultusministerkonferenz Muttersprachen-Mindeststandards für Pop-Hits erließ wie es sie in Frankreich gibt und keine Enquetekomission eine Zwangsquote für Lindenberg, die Ärzte, Kunze und Konsorten einführte, begann im Grunde mit dem Hilferuf aus Hannover ein Siegeszug deutscher Popsänger und Rockmusiker, Rapper, Soul-Stars und Schlagersternchen, wie ihn die Welt noch nie zuvor gesehen hatte.

Ein knappes Vierteljahrhundert nach der Quotendiskussion ist deutschsprachige Musik die große Dominante im Radio, im Fernsehen und in den Hitparaden. Standen 1996 am Jahresende gerademal drei in Deutschland produzierte Songs unter den Top-20 des Jahres - zwei davon englischsprachig und mit „Ich find’ Dich scheiße“ von Tic Tac Toe erst auf Platz 18 ein erstes deutschsprachiges Lied - hatten es Ende 2018 vier deutsche Songs in die Single-Top-Ten geschafft.

Fast ein Viertel der Top 100 Single-Trends besteht aus deutschsprachigen Liedern. Neben dem Überhit „In My Mind“ von Dynoro und Gigi D'Agostino auf Platz 1 konnten Bausa („Was du Liebe nennst“, Platz 3), Olexesh feat. Edin („Magisch“, Platz 8) und Namika feat. Black M („Je ne parle pas français“, Platz 9) punkten.

Bei den Alben wird die Trendwende sogar noch deutlicher: Neun der zehn meistverkauften Alben des Jahrgangs 2018 stammen von deutschen Künstlern, die deutsch singen. Nur dem Briten Ed Sheeran gelang das Kunststück, mit einem englischsprachigen Werk in die Phalanx der Einheimischen einzubrechen.

Und das ist kein Phänomen, das sich durch den Erfolg einiger Superstars wie Helene Fischer, Frei.Wild oder Grönemeyer begründet. Im Gegenteil: Auch wenn Fischer mit demselben Album bereits im zweiten Jahr Platz 1 belegt, zeigt der Blick auf die Plätze 10 bis 100, dass deutsche Produktionen für fast zwei Drittel der 100 erfolgreichsten Alben zuständig sind.

Eine neue deutsche Welle, die alles wegspült, was nicht deutsch singt. Unter den Top-20-Alben 2018 sind 19 in Deutschland produzierte Werke. Das einzige englischsprachige darunter liefert die Kelly Family. Bis Platz 50 finden sich nur sieben ausländische Produktionen, allesamt wie Judas Priest, Eminem, die Beatles und Mark Knopfler aus der Abteilung Alte Helden. Dazu noch zwei Film-Soundtracks - mehr globaler Pop ist nicht im Deutschland des Jahres 2018, in dem das Publikum auf das Eigene abfährt wie nie.

Weltmusik Pop wurde Soundtrack zum Dorftanz

Triumphe ohne Quote, die Weltstars wie Ex-Beatle Paul McCartney (Platz 49) und Sting (66) wie Fremde auf einer Party wirken lassen, auf der durchweg deutsch gesungen wird. Ein Zeitenbruch, der die Weltmusik Pop in einen Soundtrack zum Dorftanz verwandelt hat.

Vorbei die Zeit, als die Geschmäcker weltweit zusammenwuchsen und Jugendliche in Seattle, Sewastopol, Shanghai und Schwerin dieselben Idole hatten. Nicht einmal die Rockgruppe Tocotronic, die die Deutschquote einst als eine Form von „Deutschtümelei und Heimatduseligkeit“ bezeichnet hatte, wehrt sich noch. Das letzte Album der Hamburger, „Die Unendlichkeit“ überschrieben, widmete sich der Kindheit im Reihenhaus und dem Kleinstadthorizont, der in der Unendlichkeit einer Welt aus Möglichkeiten Halt gibt. (mz)