Poetikvorlesung Poetikvorlesung: Grönemeyer erklärt seine Welt
leipzig/MZ. - Erinnert man sich an die Gäste vergangener Jahre (Ingo Schulze, Herta Müller, Harry Rowohlt), die das Leipziger Literaturinstitut und die Kulturstiftung Sachsen bisher als prominent-fachkundig zum Thema "Schreibweisen der Gegenwart" geladen hatte, machte die aktuelle Entscheidung auf jeden Fall neugierig: Am Mittwoch, dem Reformationstag, sollte Herbert Grönemeyer eine Poetikvorlesung in Leipzig halten.
Würde hier etwa eine ausgereifte Ästhetik - eine Theorie also - vorgelegt werden? Womöglich ein kritischer Kommentar zur Lage der Nation entwickelt? Im Alten Rathaus herrschte zumindest eine Atmosphäre, die so manchen Professor vor Neid erblassen lassen kann. Vor den historischen Ölgemälden, unter pompösen Kronleuchtern und von Security-Leuten bewacht, lauschte das Publikum der Eröffnungsrede des Oberbürgermeisters Jung.
Und hier begannen die Widersprüche des Abends. Während der Betonung, dass die Vortragsreihe die zeitgenössische Literatur in Sachsen bewerben soll, wurde Grönemeyer, der derzeit in London lebt, herzlich begrüßt. Als Jung erklärte, dass die Texte besonders wichtig seien - reflektieren sie doch Leben und Wachsen im gesellschaftlichen Kontext - wurde es angesichts des Kommenden hochgradig komisch.
Denn schließlich schilderte der Nuschelbarde in der einzigen Kernaussage, die sich auf sein Kunsthandwerk bezog, eindrucksvoll in welchem grandiosen Ausmaße sich die Liedtexte der vorher gefertigten Melodie fügen müssen: "Die Melodie ist zuerst da, dann schreibe ich 40 bis 50 Texte. Nur die, die sich an die Melodie anschmiegen, werden verwendet. Der Text wird auf die Melodie gezimmert. Wenn es passt, ist es wie ein 30 Meter Schuss ins obere rechte Toreck." Dem Literaturprofessor Treichel konnte man da schon mehr Feingefühl ablauschen: Seine Eröffnungsrede war genauestens komponiert, versuchte sich nämlich an einer inhaltlichen Legitimation des Gastes und scheiterte dennoch unfreiwillig: Grönemeyer wollte eigentlich Fußballer werden, gebe jetzt aber zeitgemäße Kommentare, ist Vertreter derjenigen Kunstform, die das Innere ohne entstellende Rationalisierung auszudrücken vermag und kann angesichts seines Liedes "Was soll das?" den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion erklären: Oder glauben wir denn, dass er mal nach Hause kam und seine Frau mit jemand anderem erwischt hat?
Angeheitert von all diesen Kalauern, stand der Stargast endlich auf der Bühne. Im schwarzen Jackett, mit schwarzer Brille. Zuerst erzählte er blank und frei über seine Kindheit und Jugend, streute eine Reflexion über die Sprache ein ("Die Sprache ist das Werkzeug, dass Fremde miteinander arbeiten können."), sprach vom Vater in der Turnhose, von Ruhrpottmentalitäten, wie er durch Zufall von einem bekifften Regisseur begleitet ans Theater kam, von seinen Lieblingsbands. Poetikvorlesung hin, Poetikvorlesung her: Herbie schwatzte aus dem biografischen Nähkästchen, glorifizierte seinen Lebensweg, um sich dann geschickt selbst zu fragen: Ja, was macht eigentlich den Charme meiner Poesie aus?
Grönemeyer bekam eine Plattform, die ihn von vornherein zu den größten Dichtern unseres Landes stilisierte. Entsprechend nahm er diese nicht hinterfragte Selbstverständlichkeit auf und plauderte daher, dass er nicht aus innerem Zwang dichte, vor dem Schreiben immer alles Mögliche durcheinander lese und eine Menge Unterschiede zwischen Deutschen und Engländern kenne.
Zwischendurch durfte er noch seine neue englischsprachige Platte promoten, ein Liedchen am Klavier knödeln und erzählen, dass sein "Lächeln" in den 80er Jahren auf den westdeutschen Index kam ("Zensur gab es also nicht nur in der DDR."). Anschließend erschöpften sich seine kritischen Kommentare darin, dass er ganz allgemein davon sprach, dass jedes politische System Angst vor kreativen Prozessen hat und es immer noch Verständigungsschwierigkeiten zwischen Ost und West gibt.
Selbst die Ironie funktionierte am Ende der eineinhalbstündigen Vorlesung nicht: "Ich versuche mich an John Wayne zu halten: Sprich tief, sprich langsam und erzähl nicht so viel." Da die Möglichkeit nachzufragen nicht existierte, blieb es bei der eigenhändig durchgeführten Selbststilisierung als kritischer Künstler der Gegenwart. Die Entscheidung Grönemeyer einzuladen war mutig. Vom inhaltlichen Standpunkt betrachtet, verhält sich die Prominenz des Gastes aber leider proportional zu den Nichtigkeiten, die er berichtete.