Podiumsdiskussion zur Flüchtlingskrise in Halle Podiumsdiskussion zur Flüchtlingskrise in Halle: Zwischen Angst und Chance
Halle (Saale) - Wenn das Waffeleisen brennt, schrillt der Feueralarm los. Matthias Brenner stürzt aus seinem Hotel, für einen Moment aus dem üblichen Trott gerissen. Termine werden flüchtig, Gewissheiten lösen sich auf. Nicht viel anders, als sich viele seit Wochen fühlen, glaubt der Intendant des neuen theater in Halle. „Da ist ein Seismograph in uns, der uns sagt, dass etwas nicht stimmt.“
Darüber muss gesprochen werden, darüber soll gesprochen werden an diesem Abend im halleschen Operncafé, in das die Mitteldeutsche Zeitung zur Podiumsdiskussion unter dem Titel „Mit dem Wort fängt alles an“ geladen hat. Rund hundert Menschen sind gekommen, um mit Matthias Brenner und MZ-Kulturressortleiter Andreas Montag und ihren Gästen zu diskutieren. Neben Ex-Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) und dem Linken-Politiker Wulf Gallert sitzen der hallesche Sozialwissenschaftler Andreas Siegert und der Schriftsteller Lutz Rathenow, derzeit Chef der sächsischen Stasi-Unterlagenbehörde, auf dem Podium. Vor ihnen im Saal viel graues Haar, Anzüge, aber auch Trainingsjacken, einige Studenten und städtische Prominenz wie Steintor-Chef Rudenz Schramm und nt-Schauspieler Reinhard Straube.
Sachsen-Anhalt ist auf Zuwanderung angewiesen
Dass es nicht leicht ist, miteinander zu reden in Zeiten, in denen Diskussionen mit Sprechchören, Plakaten und gelegentlich auch mit Spielzeuggalgen bestritten werden, bekommt Andreas Siegert als erster zu spüren. Der Demografie-Experte versucht, am Beispiel von Hettstedt aufzuzeigen, wie dringend gerade Sachsen-Anhalt auf Zuwanderung angewiesen ist. Siegert argumentiert mit Zahlen. 200 Migranten im Jahr benötige Hettstedt, sonst stiegen die Wasserpreise um 30 Prozent. „Wir brauchen Zuwanderung“, sagt Siegert. Die Alternative sei eine sich selbst verstärkende Entwicklung hin zur weiteren Ausdünnung.
Fakten gegen Angstmache? Oder Angstmache der anderen Art? Im Saal ist es unruhig. Der Wissenschaftler solle aufhören, seine „Märchen“ zu erzählen, ruft ein Mann. Gleich darauf steht ein anderer am Saalmikrofon. „Die ganze Willkommenskultur ist scheinheilig“, sagt er, „es geht doch in Wahrheit um einen Bevölkerungsaustausch.“ Zum ersten Mal an diesem Abend wird klar, dass es wenig nützt, wenn sich zwar alle wirklich zuhören, wie es sich Matthias Brenner anfangs gewünscht hatte. Darunter aber nur verstehen, einander ausreden zu lassen, um nach dem letzten Wort des Gegenübers vehement zu widersprechen.
Alternativlose Nützlichkeitsargumentation
Wolfgang Böhmer, der frühere Ministerpräsident, tut das immerhin, ohne dass es so aussieht. Siegerts alternativlose Nützlichkeitsargumentation weist der CDU-Mann zurück. „Die Menschen aus Syrien kommen ja nicht, weil hier zu wenig Kinder geboren werden“, sagt er. Böhmer, der Christ, hält sich an die Bibel. In der Not zu helfen, sei selbstverständlich. „Doch wenn so viele demonstrieren, ist das ein Zeichen dafür, dass das Vertrauen in die Politiker weg ist.“
Böhmer bekommt Applaus. Was er sagt, denken wohl einige im Saal. Oben wird regiert, unten mit dem Kopf geschüttelt. Eine „Gesprächsnot“ nennt Andreas Montag das. Lutz Rathenow vermutet hier die Ursachen dafür, „dass der politische Protest nur noch eskaliert, bis er sinnlos wird.“ Ein Mann aus dem Saal bestätigt das. Er sei „absolut enttäuscht“ von der Politik der „drei Pappnasen in Berlin“, habe aber das Gefühl, er müsse sich dafür „ständig rechtfertigen“. So entsteht Ohnmacht, Unmut, Wut, die sich dann am Saalmikro mit bebender Stimme äußert und kein Klischee auslässt: Deutschland sei eine Kolonie, die USA an allem schuld, die Kanzlerin nur eine Marionette. Und dies und das und jenes steht nicht einmal in der Zeitung. Auch Wulf Gallert, Spitzenkandidat der Linken bei der anstehenden Landtagswahl, hat ein paar einfache Lösungen mitgebracht. So lange Deutschland Waffen in die Gebiete exportiere, aus denen die Flüchtlinge kämen, solange kämen eben Flüchtlinge. „Wir müssen an die Fluchtursachen ran und Waffenexporte stoppen“, holt er sich seinen Applaus ab. Wolfgang Böhmer weist darauf hin, dass dann andere Staaten in die Bresche springen werden. Gallert lässt die Antwort aus.
Rationale oder irrationale Ängste?
Sind es rationale Ängste, die die Diskussion prägen? Oder irrationale? Soll man die Chancen sehen, die ein Land ausgeteilt bekommt, wenn ihm hunderttausende neue Bürger zuströmen, die „eine viel höhere Motivation mitbringen als viele Langzeitarbeitslose“, wie Andreas Siegert herausgefunden hat? Oder darf die Sorge im Mittelpunkt stehen, zu verlieren, was man sich hart erarbeitet hat?
Es geht ein Riss durch den Saal, ein Riss, der auch einer durch die Generationen zu sein scheint. Während die älteren Frauen und Männer am Mikrofon eher skeptisch bis pessimistisch sind, bereit zur Hilfe, aber im Zweifel, ob die ausreichen wird, wirbt eine Studentin für offene Arme und offene Herzen. „Flüchtlinge sind die Letzten, die etwas dafür können“, sagt sie. Und wer ein Problem mit der Regierung habe, dürfe sich deswegen noch lange nicht bei einer Pegida-Demo einreihen.
Applaus auch hier, aber nur vom halben Saal. Was denn sonst? Wo denn hin mit den Sorgen? Wem erzählen von den Zweifeln, ob wir das schaffen? Ilona Runge sagt ganz leise, sie sei da auch nicht sicher gewesen. Also ist die Hallenserin zum „Maritim“ gegangen, das seit kurzem ein Flüchtlingsheim ist, und hat sich dort als Helferin bei der Kinderbetreuung einteilen lassen. „Wissen Sie“ sagt sie, „ich spreche kein Arabisch, aber wir verstehen uns.“ Hände, Füße, Gesten. „Es ist fantastisch“, sagt Ilona Runge, „man lächelt sich zu, und die Angst ist weg.“ (mz)