Peter-Michael Diestel Peter-Michael Diestel: Des Widerspenstigen Krönung
HALLE/MZ. - Uff, gerade noch mal gut gegangen. Jetzt durchatmen. "Ich war zwar damals durch mein ständiges Krafttraining in absoluter Höchstform", schnauft auch Peter-Michael Diestel einen Moment lang erleichtert durch, "aber unter den Burschen da auf dem Dach waren ein paar wirklich schwere Jungs, tätowiert bis zum Hals."
Heiße Tage damals, 1990, als Diestel im letzten Kabinett der DDR als Innenminister dient und in der besetzten U-Haftanstalt Leipzig "aus dem Bauch heraus den richtigen Ton" fand, wie er heute sagt. Die Gefangenen beruhigen sich. Es kommt nicht zum Kampf des gelernten Melkers mit dem stärksten Häftling, den Diestel der meuternden Menge eigentlich angeboten hatte, wie der heute 58-Jährige den Journalisten Hannes Hofmann in seinem biografischen Skizzenbuch "Aus dem Leben eines Taugenichts?" schreiben lässt.
Das Fragezeichen hinter dem Titel ist Programm. Diestel kokettiert nicht, nein. Er ruft, ja, er fleht um Antwort. Kein Taugenichts! Sondern ein imposanter, liebenswert knurriger und querköpfiger Mitgestalter der Zeitgeschichte!
Eine Rolle, die sich Peter-Michael Diestel selbst auf den durchtrainierten Leib geschrieben hat. Vor 20 Jahren wuchs der Justitiar eines Landwirtschaftsbetriebes in Delitzsch binnen weniger Monate vom Niemand zum ersten demokratisch gewählten Innenminister. Er sei sich anfangs wie ein Hochstapler vorgekommen, gesteht Diestel heute. Nicht ohne nachzuschieben: Als er die anderen am Kabinettstisch gesehen habe, sei ihm schnell klar geworden: Minister kannst du auch.
Er bleibt es für 174 Tage, die ihm bis heute wie ein Siegerpodest erscheinen. Seine Geschichten aus einer Zeit, "als Profis und Amateure deutsche Geschichte machten", schreiben nicht Geschichte, sie zeichnen vor allem ein Porträt ihres Erzählers. Der hat sich schon immer prima gefallen, hier aber lässt er mehr als ein gutes Haar an sich. Diestel, ein grundsympathischer Typ, der zu DDR-Zeiten lieber die Faust in der Tasche ballte, als mit dem Kopf vor die Wand zu rennen, erzählt sich auf 236 Seiten zum unbekannten Helden der Einheit. Wo der "Spätromantiker mit Waffenschein" war, da spielte die Musik, streng subjektiv gesehen. Denn neu geschrieben werden muss die Geschichte der Einheit nach den Bekenntnissen der heute in Mecklenburg residierenden "Reizfigur" (Diestel) nicht. Der gebürtige Mecklenburger war zwar neben Ministerpräsident de Maiziere und Ost-Verhandlungsführer Günther Krause am dichtesten dran am Puls der Zeit, doch statt Eingemachtes aufzutischen, serviert Diestel lieber die Vorsuppe des Anekdotischen als Hauptgericht. Gern gewürzt mit spitzen Geschossen gegen frühere Kollegen, die er spürbar bis heute nicht mag. So hangelt sich der Hobbyjäger an humorigen Petitessen durch die dramatischen Schicksalstage der Nation. Eine Hotelbar-Affäre etwa erschütterte einst die Freundschaft der Konservativen in Ost und West, nachdem zwei DDR-Politiker im Westen Schnäpschen für 350 Mark aus der Zimmerbar gezecht hatten. Der Schriftsteller Stefan Heym wiederum bat seinerzeit um Hilfe, seine Stasiakten sehen zu dürfen. "Stefan war stocksauer, weil in den Akten auch mancher seiner Seitensprünge vermerkt war."
Überhaupt die Stasi! Die Akten! Mehr als die Hälfte der Personen, die am Runden Tisch die Stasi-Auflösung beschlossen, stand selbst auf der Lohnliste des MfS, hat Diestel zusammengezählt. Wolfgang Schnur dagegen, Stasi-Spitzel und 1990 fast DDR-Ministerpräsident, bewirkte Großes für Deutschland, als er die Tochter einer befreundeten Familie in seine Partei Demokratischer Aufbruch (DA) holte: Die Frau heißt Angela Merkel.
Wie köstlich sich Peter-Michael Diestel bei solchen Gelegenheiten amüsiert, ist nicht zu überhören. Der Quereinsteiger, der im Amt ein Querkopf blieb und seine politische Karriere nach einem gescheiterten Versuch beendete, Ministerpräsident von Brandenburg zu werden, inszeniert sich mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten als einsamer Wolf mit ehernen Grundsätzen. Eine ehrliche Haut, die nicht zur Heuchelei des politischen Alltagsgeschäfts in der Lage ist. Lieber nochmal die Story, wie er die Volkspolizei-Generale auf seine Seite zog, den heimlichen Stasi-Häuptling Markus Wolf überzeugte, sich mit Schalck-Golodkowski aussprach und sogar einen KGB-General zu Tränen rührte.
Dem Mann gefällt es immer noch, nicht allen zu gefallen, wenn ihm dafür alle übrigen applaudieren. Diestel sieht sich als ostdeutschen Solitär, parteiübergreifend befreundet mit Gregor Gysi und Egon Bahr, Helmut Kohl und dem DDR-Anwalt Wolfgang Vogel. Stur stellt er sich bis heute vor die Hauptamtlichen des MfS, standhaft saß er Versuche aus, ihn selbst mit der Stasi-Karte auszustechen. "Ich bin dem Herrgott dankbar", sagt er, "dass er mich mit so kräftigem seelischen und körperlichen Potenzial ausgestattet hat", lobt Diestel ausnahmsweise mal höhere Mächte. Aber auch das klingt, als meine er eigentlich sich selbst.
Peter Michael Diestel: Aus dem Leben eines Taugenichts?, Das Neue Berlin, 236 Seiten, 16,95 Euro