Otto Mellies Otto Mellies: Es ist alles viel einfacher
BERLIN/MZ. - Er war Lessings Nathan. Eine beispiellose Rolle in einem beispiellosen Stück, gespielt am Deutschen Theater in Berlin. Vor 1989 keine Bühne unter anderen, sondern das glanzvollste Theater der DDR, erste Adresse einer von der Theaterkunst besessenen Gesellschaft. Das muss man vorausschicken, um zu begreifen, wer der Schauspieler Otto Mellies ist, der am Mittwoch 80 Jahre alt wird.
Und was Lessings "Nathan der Weise" war. Ein Bekenntnis- und Paradestück, mit dem 1945 das Deutsche Theater wiedereröffnet wurde. Ein Stück, das lief und lief, nur die Hauptdarsteller wechselten: Paul Wegener, Eduard von Winterstein, Wolfgang Heinz - und von 1987 an Otto Mellies in der Regie von Friedo Solter. 325 Mal stand Mellies als Nathan auf der Bühne: schwarzer Mantel, schwarzer Anzug, weißes Hemd. Unter der schwarzen Kippa ein hell geschminktes Dreitagebartsgesicht.
Mit Mellies trat der Nathan 2005 ersatzlos von der Bühne des Deutschen Theaters ab. Nach 18 Jahren. Könnten Sie den Nathan noch spielen, Herr Mellies, auf einen Wink hin? "Ein, zwei Proben bräuchte ich schon", erwidert der Schauspieler: "Aber dann!" Weinrotes Hemd, schwarze Hose: Entspannt sitzt der Bühnenheld auf einem feingliedrigen Sofa in seinem Berliner Wohnzimmer. "Aber ich will es nicht. Ich will den Nathan nicht mehr spielen. Man wird in dieser Rolle schnell zu einer Heiligen Kuh."
Der erste Eindruck von Otto Mellies: ein großer und gerader Mann. Zu groß eigentlich für das kleine Einfamilienhaus, das er seit 1964 in Berlin-Grünau gemeinsam mit seiner Ehefrau Luise bewohnt, einer ehemaligen Koloratursängerin, fünf Jahre älter als ihr Mann. Alles sitzt bei Mellies: jede Geste, auch jeder Ton. Diese warme tiefe Stimme: Die sprach im deutschen Kino für Paul Newman, Christopher Lee und Sean Connery. Und den Wissenschaftler in der Defa-Fassung von Tarkowskis Endzeit-Klassiker "Stalker". Unaufdringlich stellt Mellies Aufmerksamkeit her. Egal, ob er selbstgebrühten Kaffee serviert oder zu Shirley spricht, einer schwarzweiß gefleckten Border-Collie-Hündin, die sich anmutig vor dem Sofa zusammenrollt.
Otto Mellies, Sohn eines Friseur-Obermeisters, 1931 in der ostpommerschen Kleinstadt Schlawe, heute Slawno, geboren. Nur zufällig überlebt er das Kriegsende. 14 Jahre alt, als er den Tod seiner Mutter, einer seiner Schwestern und deren drei Kindern miterlebt. "Mehrmals wurde gegen unsere Wohnungstür geschlagen", ist in Mellies' im Verlag Das Neue Berlin veröffentlichten Erinnerungen zu lesen: "Dann
ging alles sehr schnell". Und: "Über das, was dann folgte, werde ich nichts erzählen, niemals". Am Morgen flieht der Junge durchs Küchenfenster. Allein nach Westen.
"Ich hatte keine Ahnung, was Theater war", erzählt Mellies. In Stolp, der größten Stadt des Landkreises, habe es keine Bühne gegeben. Einmal sah Mellies den "Faust", präsentiert von einer Wanderbühne aus Schneidemühl. Aber das habe er bemerkt: "In der Schule lag mir das Aufsagen von Gedichten und Balladen. Da glühte ich." Nach der Flucht landet der 16-Jährige in der Schweriner Schauspielschule der Lucie Höflich, zeitweise Ehefrau von Emil Jannings, die bereits Marianne Hoppe unterrichtet hatte. "Mein Gott, ist der süß!", staunt die Höflich über Mellies.
Dessen Weg führt 1956 ans Deutsche Theater. In große Rollen: der Pylades in "Iphigenie", der Onkel Gajew im "Kirschgarten", Flavus in "Senecas Tod". Über Mellies sagt dessen Freund, der Schauspieler Klaus Piontek: "Er hat nicht versucht, sich für Effekte in Pose zu setzen, das scheinbar Komplizierte, sondern im Gegenteil zu sagen: ,Es ist alles viel einfacher'. Die Grenzen werden nicht mit dem Lineal gezogen und das erhebt ihn über den Nur-Perfektionisten." Welche Eigenschaften sollte ein Schauspieler nicht besitzen? "Arroganz und Überheblichkeit den Stoffen gegenüber", sagt Mellies. "Den Anspruch, den Lessing so hinzuschneidern, dass er vermeintlich aktueller ist. Lessing ist gut, so wie er ist. Ein Schauspieler sollte dem Publikum dienen, dazu gehört die Verständlichkeit." Was ist notwendig? "Begeisterung. Erfüllung. Begabung sowieso." Aber noch dann sei das Schauspielen kein ungefährlicher Beruf. Was, bitte, ist daran gefährlich? "Wenn ein Schauspieler über lange Zeit keinen guten Regisseur hat. Wenn er keine Korrekturen erfährt. Wenn er, wie das in manchen Stadttheatern der Fall ist, statt dessen eine große Rolle nach der anderen spielt: Dann wird man schnell leer. Sitzt man erst einmal in diesem Boot drin, ist es schwer gegenzusteuern. Viele Schauspieler landen im Rundfunk oder im Fernsehen." Letzteres kennt Mellies auch. Es machte ihn bekannt "wie einen bunten Hund".
Bekannt ist Mellies noch heute. Eine Berühmtheit im Osten. Der Tageskalender ist voll: Lesungen, Radioaufzeichnungen, Filmrollen. Kürzlich erst hat er einen Kinofilm mit Andreas Dresen ("Sommer vorm Balkon") abgedreht: "Halt auf freier Strecke". Eine neue Erfahrung für den Präzisionsschauspieler Mellies: "praktisch improvisiert, ohne vorgegebenen Text". Als Zuschauer geht er nicht mehr ins Theater. Die emotionale Bindung sei gekappt, sagt er. Er habe sich dabei erwischt, wie er immer öfter auf die Uhr schaute. "Wissen Sie, ich langweile mich schnell."
Groß feiern wird Mellies heute nicht. Mit wem auch, fragt er. Viele seiner DT-Kollegen seien längst tot. Und überhaupt: "Ich spiele nicht gern den Jubilar. Ich werde in den kommenden Tagen mit meiner Familie schön essen gehen", seinen zwei erwachsenen Kindern also, den drei Enkelkindern. Und die Bühne, Herr Mellies, kehren Sie dorthin noch einmal zurück? Er ziert sich. Keine Wünsche habe er mehr als Schauspieler. Ihm ginge es nicht darum, noch einmal auf einer Bühne zu stehen. "Andererseits: Shakespeares Lear, den fände ich interessant." Vorausgesetzt, das alles stimmt: Ensemble und Regie. Aber dann? Aber ja, sagt Mellies. "Noch einmal die große Form."
Otto Mellies: An einem schönen Sommermorgen. Erinnerungen. Das Neue Berlin, 256 Seiten, mit Abb., 19,95 Euro