Nina Hagen beim Kurt-Weill-Fest Nina Hagen beim Kurt-Weill-Fest : Sie will nicht nur spielen

Dessau-Rosslau - In Dessau hat Nina Hagen offensichtlich nicht nur ihren Farbfilm vergessen. Der ist schon 1974 endgültig abhanden gekommen. Doch der quirlige Sprössling einer prominenten DDR-Künstlerdynastie sieht auch ein paar Generationen später mit ihrer hochdrapierten pechschwarzen Haarpracht und im kurzen Rock immer noch wie die krawallige Nina von damals aus. Die heute 60-Jährige hat schließlich alles dafür getan, um mit schrägen Auftritten zur Marke zu werden. Das schrille Outfit inklusive.
Mit den Texten oder dem roten Faden für’s Programm nimmt sie es dagegen nicht so genau. Und selbst, dass sie eine Partnerin wie Sanda Weigl (passenderweise, trotz fehlendem e, tatsächlich eine Nichte von Brechts Helene) auf der Bühne zur Verstärkung an ihrer Seite hat, scheint sie nicht immer auf dem Schirm zu haben. Denn die bräuchte auch mal einen Augenkontakt, wenn sie schon soufflieren, mitsingen oder den Faden aufnehmen soll, den Nina immer wieder fallen lässt.
Aber diese Art von Perfektion wird vom Publikum weder erwartet, noch nimmt ihr das Durchmogeln durch den Zweistundenabend irgend jemand übel. Das geht auch gar nicht, wenn die zur Queen Mum des deutschen Punk und zum Gesamtkunstwerk Avancierte Hof hält im ausverkauften Dessauer Riesenhaus. Hier hat man wohl auch ein Stück Erinnerung an die eigene Jugend mitgebucht.
Außerdem steht ja Kurt-Weill-Fest oben drüber. Einen Bogen zum Festspielmotto, das Weill in Verbindung zu Ernst Krenek und der Moderne sieht, versucht Nina Hagen gar nicht erst. Ihr reichen Gott und die Welt und sie selbst. Ist ja auch allerhand. Und den Weill aus seiner populären Mahagonny- und Dreigroschenopern-Songphase, den hat sie drauf. Jedenfalls mindestens immer eine Strophe. Unterm Strich kommt sie an diesem Abend auf über zwanzig Songs. Alles was so Rang und Namen hat. Und den Haifisch mit den Zähnen, den gibt es gleich mehrfach.
Und den ganz speziellen Nina-Hagen-Stil. Also: An die Songs ranpirschen oder reinplatzen, sich hineinwerfen oder in sie fallen lassen, mit ihnen spielen, sie in die Luft werfen und dabei auch mal für kurze Zeit aus den Augen verlieren, sie dann aber wieder an sich reißen und mit sich in den Abgrund ihrer rauchigen Röhre ziehen. Wenn sie zur Gitarre greift oder sich konzentriert, sich also auf sicherem Terrain bewegt, dann ist sie einfach großartig. Dazwischen: notorisch unvorbereitete, improvisiert verquirlte Zwischenkommentare, in denen der Liebe Gott, Jesus und der Weltfrieden ebenso vorkommen wie psychiatrische Gutachten oder das aufdämmernde Weltenende. Das ist nicht ohne ein gewisses Quantum Peinlichkeit zu haben. Man kann ja so lange ihre Begleiter an Gitarre (Warner Poland), Klavier (Fred Sauer) und Bass (Michael Fyan) für ihre Fähigkeiten zum Reagieren und Improvisieren bewundern.
Und dann kommt sie auf einmal mit ihrer Vertonung von Matthias Claudius’ „Kriegslied“ aus dem Jahre 1778! Und verblüfft als eine Künstlerin, die durchaus was sagen will und zu sagen hat. Was wäre das für ein Show, wenn sie sie auch noch vorbereiten würde! So ist es mehr eine Einladung zum Staunen und Erinnern, manchmal zum Kopfschütteln, oft zum Zurücklehnen und Genießen.
Alles zusammen ein Beleg dafür, wie das Faust’sche Unzulängliche zum Ereignis und auf seine Weise großartig und mitreißend werden kann. Ihre Stimme jedenfalls hat Nina Hagen am Ende, wenn sie an Louis Armstrong erinnert, so angestrengt, dass sie tatsächlich fast wie Satchmo klingt. Man geht als Freunde auseinander. Und ihre Ankündigung „Auf bald!“, die behält man als Versprechen im Ohr. (mz)