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Neues Rolling-Stones-Album Neues Rolling-Stones-Album "BLue & Lonesome": Das wilde Biest im Schuhkarton

02.12.2016, 17:13
Die Rolling Stones haben ein neues Album veröffentlicht.
Die Rolling Stones haben ein neues Album veröffentlicht. EPA

Köln - Sie kennen ihn ja wahrscheinlich, den Ursprungsmythos der Rolling Stones. Das schicksalhafte Zusammentreffen der früheren Grundschulkameraden Mick Jagger und Keith Richards an Gleis 2 des kleinen Bahnhofes von Dartford.
Jagger, 18, mit Schallplatten von Chuck Berry und Muddy Waters unterm Arm, die er direkt beim Label Chess Records in Chicago bestellt hatte, Richards, 17, mit seiner Gitarre im Gepäck. Die erste Unterhaltung über den elektrischen, elektrifizierenden Blues aus Chicago.

Das war im Oktober des Jahres 1961, im Sommer darauf spielten beide zusammen mit Brian Jones – einem noch größeren Blues-Fanatiker – in einer Band, getauft auf den Namen von Muddy Waters’ Song „Rollin’ Stone“.

Mit „Blue & Lonesome“, dem 25. Studioalbum der Rolling Stones, dem ersten seit elf und dem ersten wirklich gelungenen Album seit 35 Jahren („Tattoo You“, 1981), schließt sich also ein Kreis. Denn hier kehrt die Band zu ihrer Raison d’Être zurück, nicht zum ersten Mal in ihrer langen Karriere, aber in unerhörter Konsequenz: „Blue & Lonesome“ besteht aus zwölf, in nur drei Tagen eingespielten Coverversionen von Chicago-Blues-Songs, die meisten davon aus den späten 50er Jahren.

Jenseits der Coolness

Eine Rückkehr zu den Wurzeln, und doch, für die Mittsiebziger, etwas völlig Neues. Denn eine Blues-Band waren die Rolling Stones nie. Muddy Waters’ klassische Aufnahme von Willie Dixons „I Just Wanna Make Love To You“ ist der unverblümte Klagegesang eines Notgeilen. Auf dem 1964er Debütalbum der Rolling Stones hat sich dieser Blues in frenetischen britischen Teenie-Pop verwandelt und Jagger singt den Text als wortreichen Anmachspruch.

Schneller Vorlauf ins Jahr 2016: Mit „I Can’t Quit You“, einem weiteren Beziehungsblues von Willie Dixon, beschließen die Rolling Stones ihr neues Album, und ja, diesmal schleppt sich das Stück genauso traurig und verzweifelt dahin, wie es gemeint war. Mick Jaggers Stimme überschlägt sich, er hat jede Coolness fahren gelassen. „War das okay?“ kann man ihn nach dem letzten Scheppern fragen hören, ein bescheidener, aber langjähriger Fan. Als Led Zeppelin „I Can’t Quit You“ 1968 für ihr Debüt einspielten, pimpten sie den Song großspurig mit Laut-Leise-Dynamik und virtuosen Gitarrenlicks auf.

Rumpelige, großartige Garagenband

Die Rolling Stones anno 2016 sind davon weitestmöglich entfernt. Allerdings darf man von ihrer neuen Bescheidenheit nicht auf mangelndes Selbstbewusstsein schließen. Der kreative Funke zwischen Jagger und Richards mag schon vor Jahrzehnten verloschen sein, doch hinter dem Stadion-Act, dem Milliarden-Unternehmen, verbirgt sich immer noch eine kleine, rumpelige, intuitiv großartige Garagenband.
Und die hört man hier vielleicht zum ersten Mal in ihrem aufgekratzten, wundgeschmirgelten Glanz. Keith Richards und Ronnie Wood – und auf zwei Stücken auch der alte Weggefährte Eric Clapton – lassen ihre E-Gitarren sich zögerlich umspielen wie einst auf „Black and Blue“ (1976), oder aufeinanderkrachen wie zwei Gewitterfronten, die sich zum Wirbelsturm verbinden, Charlie Watts schlägt die Trommel im sturen Primitivismus einer Meg White – doch vor allem ist „Blue & Lonesome“ das Album des vielgeschmähten Mick Jagger geworden.

Der hat nicht nur die gecoverten Songs ausgewählt, sondern auch seine längst nicht mehr zu parodierenden Manierismen abgelegt. So, wie man eine Rüstung ablegt. Nun singt er ungeschützt, wie er seit Jahren nicht mehr gesungen hat: Mit brüllender Leidenschaft, komischer Verzweiflung und ungebremsten Enthusiasmus.

Und wo die Stimme nicht hinreicht, greift er zur Blues-Harp und spielt wie ein junger Teufel, im Nachhinein das Lob rechtfertigend, das ihm Keith Richards in seinen Memoiren ausgesprochen hat: „Little Walter würde noch im Grab lächeln, wenn er Micks Spiel hören könnte.“

Wildes Biest im Schuhkarton

Das muss Jagger sich zu Herzen genommen haben, auf „Blue & Lonesome“ finden sich gleich vier Stücke des legendären Mundharmonika-Virtuosen, inklusive des Titeltracks. Selbst der Sound des Albums huldigt Little Walter, der stets weit über das Limit seiner Verstärker blies und die daraus resultierenden Verzerrungen zum Stilmittel erhob, noch vor den bekannteren Helden der E-Gitarre. Ebenso übersteuert und metallisch verzerrt klingt nun auch „Blue & Lonesome“, produziert, ein wildes Biest im Schuhkarton, wie alle Stones-Alben seit „Voodoo Lounge“, von Don Was.

Warum die alten Millionäre ausgerechnet jetzt der Blues ereilt hat? Es war wohl der kreative Frust während der langwierigen Aufnahmen zu einem neuen Album mit eigenen Songs. Auf das können wir geduldig warten. „Blue & Lonesome“ sind die Rolling Stones in die man sich einst verliebt hat: schroff, laut und dreckig.