Neues Buch Neues Buch: Frühere Kombinatsdirektoren erklären die DDR-Wirtschaft

Hallen (Saale) - Der Ein-Megabit-Chip war in den 1980er Jahren das Lieblingskind der SED, deren Zentralkomitee bereits 1977 die Mikroelektronik zur Schlüsseltechnologie erklärt hatte. Mit der Entwicklung eines eigenen Speichermediums wollte vor allem Günter Mittag (1926-1994), seit 1976 als ZK-Sekretär für Wirtschaftsfragen und Planwirtschaft, das kleine Land zur Mikroelektronik-Macht erheben.
Mikrotechnologie in der DDR: Millionengrab statt Millionengeschäft
Doch statt zum Millionengeschäft wurde die Mikrotechnologie zum Millionengrab. So berichtet es Karl Nendel in „Jetzt reden wir weiter! Neue Beiträge zur DDR-Wirtschaft und was daraus zu lernen ist“. Der Band vereinigt - ebenso wie der 2014 erschienene erste Teil - Erinnerungsberichte von früheren DDR-Kombinatsdirektoren und führenden Wirtschaftsfunktionären wie Nendel (Jahrgang 1933), der Regierungsbeauftragter für Mikroelektronik und Beteiligter an dem Technologie-Desaster war.
Zwar setzten alle an dem Chip-Projekt beteiligten Betriebe - so etwa das von Jenas Carl-Zeiss-Chef Wolfgang Biermann geleitete Zentrum für Mikroelektronik Dresden und der VEB Mikroelektronik Erfurt - alle Hebel in Bewegung, doch bald zeigte sich, dass man sich technologisch überhoben hatte. Aber derlei Probleme interessierten Mittag nicht. Entsprechende Warnungen habe dieser, so Nendel, nur als „technische Details“ bezeichnet, die zu lösen seien.
DDR-Wirtschaft war weder Weltspitze noch pleite
Der Beitrag über die DDR-Mikroelektronik ist eines der spannendsten Kapitel in „Jetzt reden wir weiter!“. Dieses Buch ging aus einem „Wirtschafts-Erzählsalon“ hervor, zu dem das Berliner Unternehmen Rohnstock Biografien frühere Repräsentanten der DDR-Wirtschaftselite eingeladen hatte. Anlass für dieses und das Vorgängerprojekt war das Defizit an Erinnerungsberichten von DDR-Wirtschaftskapitänen einerseits und das Vorurteil, dass die DDR 1989 kurz vor dem finanziellen Offenbarungseid gestanden hätte, also pleite gewesen wäre, andererseits.
Weder habe die DDR, gemessen am absoluten Produktionsumfang, einen vorderen Platz unter den Industriestaaten belegt, wie seit Ulbrichts Zeiten behauptet wurde, noch sei die DDR-Wirtschaft zum Zeitpunkt von Wende und Einheit am Ende gewesen. Das notierte Christa Luft (Jahrgang 1938), 1989/90 Wirtschaftsministerin in der Regierung Modrow, im Vorwort zum Band „Jetzt reden wir“.
Schwierigkeiten der DDR-Wirtschaft werden benannt
Eine Wirtschaftsmacht war die DDR trotz aller propagandistischen Beteuerungen also nicht, ihre Wirtschaft sei aber besser gewesen als der Ruf, den sie nach 1989/90 hatte, meinen die hier zu Wort kommenden ehemaligen Kombinatsdirektoren. Die sehen sich in ihrem Ehrgefühl verletzt, dass sie nur die Verwalter einer Mangelwirtschaft gewesen sein sollen.
Deshalb werden von ihnen auch die Schwierigkeiten skizziert, mit denen DDR-Betriebe zu kämpfen hatten: Der eklatante Mangel an einheimischen Rohstoffen, die Embargopolitik der westlichen Welt, die die Einfuhr von Spitzentechnologie verbot, das Fehlen von Devisen sowie das immer weniger finanzierbare System an milliardenschweren Subventionen.
„Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ war „der Sargnagel der DDR“
An letzteren war nicht zu rütteln, verkündete doch Erich Honecker, nachdem er 1971 Walter Ulbricht gestürzt hatte, die Parole von der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, von der Manfred Dahms (Jahrgang 1936), Ex-Generaldirektor des VEB Kombinat Kraftwerksanlagenbau Berlin, sagt, sie sei „der Sargnagel der DDR“ gewesen.
Folgenschwer war auch das Fehlen eines wirtschaftlichen Wettbewerbs: „Wo der fehlt, wachsen dicke Ärsche“, brachte es Eckhard Netzmann (Jahrgang 1938), seinerzeit stellvertretender Generaldirektor des VEB Kombinat Kraftwerksanlagenbau, bereits im ersten Erinnerungsbuch auf den Punkt.
Kombinatsleiter leisteten in der DDR durchaus Beachtliches
Man muss die DDR nicht erlebt haben, um dennoch anzuerkennen, dass viele Kombinatsleiter unter den teils widrigen planwirtschaftlichen Umständen Beachtliches geleistet haben. Wie etwa Joachim Lezoch (Jahrgang 1944), der als Generaldirektor des VEB Kombinat Weißenfelser Schuhe zuletzt Herr über 47 000 Mitarbeiter gewesen ist und wie viele seiner Direktoren-Kollegen die Kunst beherrschen musste, im Kampf um die Planerfüllung Innovation und Improvisation miteinander zu verbinden. Den Import von Rinderhäuten aus Argentinien musste Lezoch ebenso koordinieren wie die Herstellung von vielen Millionen Schuhoberteilen in Polen, Vietnam und Indien. Ein Erfolgsformat war für die Weißenfelser die Produktion von Schuhen für den westdeutschen Hersteller Salamander.
Die Geschichte des 1-MB-Chip hingegen endete sang- und klanglos: Um dessen Entwicklung zu beschleunigen, wurde neben der Kommerziellen Koordinierung (KoKo) des Alexander Schalck-Golodkowski auch das Ministerium für Staatssicherheit eingeschaltet, dessen Hauptverwaltung Aufklärung die Bau-Unterlagen durch Spione bei Siemens in der Bundesrepublik beschaffen ließ. „Außer Schaltkreisen ließen wir von der Hauptabteilung Aufklärung auch Software beschaffen – wie das konkret ablief, interessierte mich nicht. Wichtig war, dass wir damit arbeiten konnten“, so Karl Nendel, dessen Aussage klingt, als sei Wirtschaftsspionage ein Kavaliersdelikt.
„Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf“
Parallel zum 1-MB-Chip wurde auch an einem 32-Bit-Prozessor getüftelt. Bei der Vorstellung des Funktionsmusters reimte Staatschef Honecker im Herbst 1989: „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.“ Ochs und Esel, so zeigte sich, das waren am Ende Mittag und Honecker selbst. Denn der 32-Bit-Prozessor konnte so wenig produziert werden wie der 1-MB-Chip. Und beide hätten auch dann nicht gefertigt werden können, wenn die DDR nach 1990 noch existiert hätte. „Die Maschinen, die zur Serienproduktion des Chips benötigt worden wären, hätten weder aus eigener Kraft gebaut noch in diesem Umfang aus dem Westen beschafft werden können“, so Nendel. (mz)