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Neuer Lyrikband von Volker Braun Neuer Lyrikband von Volker Braun: "Handbibliothek der Unbehausten"

Von Christian Eger 14.12.2016, 12:00
Volker Braun, 77, Schriftsteller in Berlin
Volker Braun, 77, Schriftsteller in Berlin arno burgi/dpa

Halle (Saale) - Das Buch beginnt mit einem Ja und endet mit einem Nein - mit dem Rückzug des Dichters aus der Arena der Gegenwart, die Volker Braun nicht mehr als die seine begreift. „Ja, mein Sehnen geht ins Ferne / Wo ich heitre Dinge treibe“, eröffnet der 77-Jährige seinen neuen Lyrikband, um 74 Gedichte weiter mit den Zeilen zu schließen: „Was ein Halbjahrhundert aufliest/ Zerschreddert das nächste, wer schreibt, handelt / Und geht.“

Kapitalismuskritik bei Volker Braun

Sozusagen im Fortgehen reicht der Büchnerpreisträger seinen Lesern die „Handbibliothek der Unbehausten“. So lautet der Titel des Buches. Der meint die kleinen, improvisierten Büchereien, wie sie heute mancherorts zu finden sind, etwa auf der Puerta del Sol in Madrid, „am Kilometer Null der Empörung“.

Oder Resterampen wie jene, in der die Bibliothek des Germanisten Dieter Schlenstedt verschwand. Aber der Titel meint auch das, was Braun selbst liefert: Handreichungen eines unbehausten Linken.

Im Gedicht „Inferno IV. Limbus“, das den Aufenthaltsraum jener Seelen beschreibt, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossenen worden sind, ruft Braun die reform-kommunistische Freundesrunde der mittleren DDR-Jahre zusammen: Bahro und Heise, Bloch und Biermann „(als er jung gewesen)“.

Das ist der Kreis, in dem sich Braun verortet: „Unbelehrt von Zeit und Züchtigungen / Ich hatte ja den Glauben nicht gefunden / Im Kaufhaus, wo es nichts gab was es nicht gab / Wers glaubt wird selig!“

Dahingestellt, ob Braun hier das „Kaufhaus“ als Metapher nicht über- und die Kapitalismuskritik unterfordert: Der Dichter zeigt sich auf einer neuen Stufe seiner Könnerschaft. Zur Schärfe kommt die Wärme des Blicks hinzu.

Braun kann sein zuweilen redseliges Pathos und effektheischendes Zitieren durchaus drosseln. Nicht die vorsätzlich politischen, sondern die persönlichen Gedichte überraschen, das, was hart am Schweigen spricht.

„Am Ufer Schilf, Gewisper aus vier Winden. / Ein Pfad von nackten Sohlen eingemuldet“: Danach sehnt sich der Dichter, der mit seiner Familie gerne Bäume umarmt. Lust statt Hoffnung, Grund statt Ziel, das sind die Orientierungen des Alters.

Dessen Sex ist offenbar das Reisen, das nach China und Mexiko, Griechenland, Spanien und in die Türkei führt. Eindrücklich gelingen Braun die Mitschriften der kollektiven und persönlichen Sprachlosigkeiten.

Volker Braun erinnert an Opfer des Stalinismus

Großartig das Gedicht „Das schwere Gepäck in den Flughäfen“: „Und das mürbe Handgepäck, wie es verstohlen verstaut wird / Die Gestalten verwittert, wie sie hereindrängen, müde...“ Daneben überzeugen kleine, wie hingetuschte Gebilde, die „Rede im Regen“ oder „Dämon“ heißen. Oder eine Notiz wie: „7.5.11. Ein schöner Tag. Mein zweiundsiebtes Jahr. / Kein Lüftchen weht. Wie war es, als ich glücklich war.“

In einem sechszeiligen Gedicht erinnert Volker Braun an die Opfer des sowjetischen Terrors, die bis heute wie lässliche Kollateral-Tote behandelt werden.

„Kolyma“ heißt das Epitaph, das den Überlebenden Schalamow zitiert: „Was ich gesehn hab / sollte niemand sehen / auch nicht erfahren...“

Beinahe wortgleich findet sich das Zitat als „Stele“ in Reiner Kunzes letztem Gedichtband „lindennacht“. Die Generation der 50er-Jahre-Kommunisten wendet sich den schweigenden Gründen der Zeitgeschichte zu.

(mz)

Volker Braun: Handbibliothek der Unbehausten, Suhrkamp, 109 Seiten, 20 Euro.
Volker Braun: Handbibliothek der Unbehausten, Suhrkamp, 109 Seiten, 20 Euro.
Suhrkamp