Nazigegner und Widerständler Nazigegner und Widerständler: Buch über Harro und Libertas Schulze-Boysen erschienen

Halle (Saale) - Am zeitigen Morgen des 23. Dezember 1942 macht sich Tora zu Eulenburg von Schloss Liebenberg nördlich von Berlin aus bei eisiger Kälte auf den Weg in die Reichshauptstadt. In der Nacht hat sie Weihnachtsgeschenke für ihre Tochter Libertas verpackt. Die will sie nun abgeben. Die junge Frau wird, wie ihr Mann Harro Schulze-Boysen, von der Gestapo festgehalten.
In Berlin wird die Mutter von Pontius zu Pilatus geschickt, niemand will zuständig sein, keiner Auskunft geben. Auch Oberkriegsgerichtsrat Manfred Roeder nicht. Sie werde schon etwas hören, bescheidet er kalt. Mehr könne er nicht sagen. Aber alle wissen, was die besorgte Frau nicht weiß: Libertas und Harro sind, wie auch andere Mitglieder der Widerstandsgruppe Rote Kapelle, bereits tot. Am Vortag, dem 22. Dezember 1942, hat man sie in der Hinrichtungsstätte in Berlin-Plötzensee ermordet.
Selbst die Herausgabe ihrer Leichname wurde den Angehörigen verweigert, man weiß nicht einmal, wohin die Asche der Toten verbracht worden ist, wie Norman Ohler in seinem eben erschienenen, umfassend recherchierten Buch „Harro & Libertas. Eine Geschichte von Liebe und Widerstand“ (Kiepenheuer & Witsch) schreibt. Was aus dem Kriegsgerichtsrat Roeder wurde, der als Untersuchungsführer und Ankläger maßgeblichen Anteil an mindestens 45 Todesurteilen gegen Mitglieder des Widerstands hatte, ist hingegen bekannt.
Er kooperierte nach Kriegsende mit dem amerikanischen Geheimdienst und ging straffrei aus. Ein von Greta Kuckhoff, Adolf Grimme, Günther Weisenborn und anderen Überlebenden des Naziterrors gegen Roeder angestrengter Prozess wurde 1951 eingestellt, die Seilschaften der alten Kameraden liefen wie geschmiert in der jungen Bundesrepublik.
Über Harro Schulze-Boysen und die Rote Kapelle, die die Verbrechen der Nazis dokumentierte und Flugblätter verfasste, ist freilich schon viel geschrieben worden. Aber das Buch von Ohler ist dennoch etwas Besonderes.
Der Journalist und Romanautor, der zuletzt mit dem wichtigen Sachbuch „Der totale Rausch“ über den groß angelegten Drogeneinsatz im „Dritten Reich“ von sich reden machte, hat in seiner Doppelbiografie über den nationalliberalen Demokraten, Intellektuellen und Offizier Schulze-Boysen und seine ebenso kompromisslos freiheitlich gesinnte Frau Libertas zwei Dinge vereint: Neben persönlich gehaltenen, detaillierten und tief lotenden Porträts der beiden Protagonisten liefert Ohler zugleich einen umfassenden, plastischen Hintergrund des bürgerlich-konservativen Milieus, dem sich Harro und Libertas verpflichtet sahen.
Beide gehören, wie ihre mutigen Freunde und Begleiter, in die erste Reihe, wenn nach dem anständigen Deutschland in Zeiten gefragt wird, da die Mörder und ihre Mitläufer den Ton im Land bestimmten. „Die letzten Argumente / sind Strang und Fallbeil nicht, / und uns’re heut’gen Richter sind / noch nicht das Weltgericht“, schrieb Harro Schulze-Boysen im Reichssicherheitshauptamt, dem Gestapohauptquartier in Berlin. Nach dem Krieg wurde der Zettel mit den Versen in den Trümmern des Gebäudes gefunden und den Eltern des Hingerichteten zugestellt.
Norman Ohler: „Harro & Libertas. Eine Geschichte von Liebe und Widerstand“, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 496 Seiten, 24 Euro